320 Prakt. Met. Sonderband 30 (1999)
3 Thermokinetische Berechnung der Ms-Temperatur
Befindet sich ein thermodynamisches System in einem bestimmten stabilen Zustand und ändern
sich äußere Randbedingungen (Temperatur, Druck etc.), so versucht das System in einen zumeist
anderen thermodynamischen Gleichgewichtszustand mit minimaler Freier Gibbs Energie zu gelan-
gen. Die dazu notwendige Angleichung der chemischen Potentiale geschieht durch den diffusions-
gesteuerten Austausch von Atomen zwischen den einzelnen Phasen. Ist der neue Gleichgewichtszu-
stand erreicht, kommen die makroskopischen Diffusionsvorgänge zum Stillstand.
Im Gegensatz dazu ist die martensitische Umwandlung eine diffusionslose Transformation. Das
kubisch flächenzentrierte Gitter des Austenits klappt in das tetragonal raumzentrierte Gitter des
Martensits um. Die Treibkraft zur Umwandlung ist durch die Differenz der molaren Freien Gibbs
Energie des Austenits Gy und des Martensits G,, gegeben [6,7,8]. Da in der SGTE-Datenbank fiir
die metastabile Martensitphase keine thermodynamischen Parameter enthalten sind, wird dessen
Freie Gibbs Energie in erster Niherung proportional der Freien Gibbs Energie des Ferrits Gy gesetzt
(Abbildung 3). Die Temperatur 7o, bei der die beiden Energien Gy und Gy den gleichen Wert an-
nehmen, ist dann der Punkt, ab dem eine Umwandlung theoretisch möglich ist. Die folgende Abbil-
dung zeigt diesen Zusammenhang am Beispiel des errechneten Wertes von G,- Ga für einen Stahl
mit 0.5 Masse-% Kohlenstoff.
m
2000 Du
Saustenit .
. Smortensit
' A | Cent
Temperatur [°C]
Abbildung 3: Berechnete Differenz der Freien Gibbs Energie zwischen Austenit und Ferrit (links)
und schematische Darstellung der Temperaturabhängigkeit der Freien Gibbs Energie (rechts).
Praktisch ist für den Beginn der martensitischen Umwandlung eine bestimmte Aktivierungsenergie
nötig. Die zur Umwandlung eines kubisch flächenzentrierten Gittertyps in einen tetragonalen raum-
zentrierten zu iiberwindende Energiebarriere AGy,, ist von den atomaren Bindungsenergien abhén-
gig und bewegt sich in verschiedenen Legierungssystemen zwischen 10 und einigen 1000 Jmol.
Guenin [9] gibt fiir die aus kalorimetrischen Messungen ermittelte Energieschwelle in Fe-C-
Legierungen einen konstanten Wert von 1260 Jmol” an. Eckstein [10] einen Durchschnittswert von
umgerechnet 1210 J mol.
Umgekehrt läßt sich die zum Initiieren der Umwandlung benötigte Energie auch aus der thermody-
namisch berechneten Differenz der Freien Gibbs Energie von Austenit und Ferrit und den experi-
mentell ermittelten Ms-Temperaturen für unterschiedliche chemische Zusammensetzungen abschät-
zen. Unter Verwendung der SGTE-Datenbank ergibt sich bei unlegierten Baustählen [11] zwischen
I;