Full text: Kant

so naiv, noch so instinktiv vor sich gehen, er ist für ein vernünftig 
handelndes Ich, das Ziele erreichen will, gefordert. Diese vom Ver- 
stehen des Sittengesetzes geforderte Übersehbarkeit der Wirklichkeit 
ist also nicht die theoretische Erfahrungserkenntnis, die niemals voll- 
endbar ist und darum die hier verlangte Übersehbarkeit nicht leisten 
kann. Die Übersehbarkeitsforderung kann vielmehr nur durch eine 
Überschau über die im einzelnen Falle für möglich gehaltenen Wert- 
verwirklichungen erfüllt werden, wie sie auf der Grundlage des Ge- 
füges der bestehenden Wertbeziehungen zwischen Menschen und 
Dingen der Umwelt sich ergeben, um daraus die sittliche Wertbezie- 
hung als die allein zur allgemeinen Wertgesetzgebung taugliche, d. h. 
sie nach Möglichkeit verwirklichende, herauszufinden. Die Natur und 
ihre Gesetzmäßigkeit ist dabei eingeordnet zu denken in die Zusam- 
menhänge der Kultur; sie tritt als Mittel und Material auf, um gemäß 
den Bedingungen der Verwirklichung sittlicher Werte gestaltet zu 
werden. Es gilt, die Kulturwerte als eine übersehbare und darum 
geschlossene Wertordnung zu begreifen, um die ihrem Gefüge ent- 
sprechende, für mich im Augenblick gebotene Handlung herauszu- 
erkennen und so aus Freiheit, d. h. aus Einsicht und Achtung vor 
dem Sittengesetz und seiner gebotenen Kulturordnung zu wählen. 
Es ist klar, daß das persönliche Wertsystem des Individuums, seine 
Weltanschauung und die Einzigkeit der ganzen augenblicklichen 
Lebenssituation unter diesen Bedingungen mit in die Anwendung des 
Sittengesetzes eingehen. Daher ist jetzt das Individuellpersönliche wie 
überhaupt das Einmalige in die Maßstäbe, die das Sittengesetz zu 
gewähren vermag, trotz der Typisierung der Handlung, eingeschaltet. 
Die subjektive Einzigkeit der Handlung wird dadurch vom Sitten- 
gesetz erreicht. Es leuchtet jetzt soweit in den Einzelfall hinein, daß 
es ihn messen kann. Und diese Maßmöglichkeit ist in einem zwie- 
fachen Sinn zu verstehen. Das handelnde Subjekt kann jetzt im Ein- 
zelfall seine eigene Handlungsweise beurteilen. Aber anderseits be- 
steht jetzt auch die Möglichkeit, die Handlungen anderer nach wis- 
senschaftlich objektiver Methode zu beurteilen. Aber die Metaphysik 
geht doch in die Beurteilung mit ein!? Die moralische Bewertung be- 
deutet keinen Gegensatz gegen die theoretische Kulturwertbeziehung 
des historischen Gegenstandes, sondern sie kann diese vielmehr ein- 
schließen, ja voraussetzen. Die Einzelhandlung kann also zunächst 
einmal in ihrem historischen Zusammenhange und in ihrer geschicht- 
lichen Bedeutung erkannt werden. Überdem aber ist jetzt der mora- 
lischen Beurteilung der Einzelhandlung gerade auf der Grundlage 
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