Full text: Kant

nur eine unendliche Aufgabe, so daß sie eigentlich nur mit Hilfe des 
Vorstellungskreises, den die positive Religion über das Jenseits im 
Begriff der Gemeinschaft der Heiligen entfaltet, sichtbar gemacht 
werden konnte. 
Ins Diesseits wird diese Brücke erst in der Kritik der Urteilskraft 
verlegt, indem jetzt Kant dazu übergeht, die Vernunft als erzeugendes 
Subjekt zu analysieren. Doch kommt es bei Kant nicht zur vollen 
und konsequenten Auswirkung dieses Gedankens; sie war seinen gro- 
ßen Nachfolgern vorbehalten. Vielmehr bleibt er wesentlich dabei 
stehen, das Faktum des Kulturbewußtseins zu beschreiben, statt seine 
Bedingungen aus seinem Begriff abzuleiten. Er stellt denn auch die 
Urteilskraft nicht über die theoretische und praktische Vernunft, 
sondern er ordnet sie gleichsam als ein Gegebenes neben sie, er faßt 
sie als das relativ passive Verbindungsglied zweier gleichwertiger 
Faktoren auf, trotz schärferer Herauskehrung der produktiven Ein- 
bildungskraft. 
2. Kant geht in der Kritik der Urteilskraft von der „unübersehbaren 
Kluft“ zwischen Naturordnung und Freiheitsordnung aus. Die eine 
betrifft das Dasein der Gegenstände, die sinnlich wahrgenommen 
werden können; die andere geht niemals auf das Dasein, noch auf 
sinnlich Wahrnehmbares, sondern auf reine Gedankendinge. Dennoch 
muß ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Feldern bestehen. 
Denn nur an dem Naturwirklichen, wie es der ausgeweitete Gegen- 
standsbegriff der Analogien der Erfahrung und der empirischen Po- 
stulate versteht, kann sich das sittliche Handeln betätigen, indem es 
die Wirklichkeit als das Material betrachtet, das es nach den Normen 
der Freiheit gestaltet. Gerade in diesem Zusammenhang von. Gestalt- 
wille und formbarem Material offenbart sich ein Grundzug im Wesen 
der Kultur als einer immer werdenden Gestaltdynamik. Kant fährt 
daher fort: Die Freiheit soll den durch ihre Gesetze aufgegebenen 
Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und dazu ist als notwen- 
dig vorauszusetzen: die Naturordnung muß so beschaffen sein, daß‘ 
sie in der Form ihrer Gesetzmäßigkeit zur Möglichkeit der Verwirk- 
lichung der Kulturzwecke mit der Freiheitsordnung zusammenstimme 
(V, 176). Es muß also einen Grund der Einheit über den einzelnen 
Kulturordnungen geben, der die Naturwirklichkeit auf die Freiheits- 
ordnung abstimmt. Fichte hat später diesen Gedanken mit der ihm 
eigenen Denkenergie zu Ende gedacht, allerdings ausschließlich in 
der moralischen Richtung, wenn er die Natur als das versinnlichte 
Materiale der Pflicht bestimmt. 
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