kann im Hinblick auf das Ideal vollkommener Erkenntnis der Wahr-
heit nur bestimmt werden durch den abwägenden Vergleich mit der
philosophischen Problemlage, die den gegebenen Grund und Boden
für ihn gebildet hat, um darauf seinen Systembau aufzuführen. Wir
müssen daher wenigstens in einer Überschau den historischen Boden
der vorkantischen Philosophie, zunächst vornehmlich der Metaphysik
betreten, um die Höhe der kantischen Problemlage und Problem-
durchführung jenen gegenüber deutlich zu machen.
2. Den Ausgangspunkt nehmen wir daher vom Altertum. „Ohne ein
Ideal über sich zu haben, kann der Mensch im geistigen Sinne des
Wortes nicht aufrecht gehen“, sagt Riehl einmal. Welches sind diese
letzten Fixpunkte des Lebens im Altertum und wieweit ist es jenen
Zeiten gelungen, sie in theoretische Formeln zu gießen? Welches sind
die letzten richtunggebenden Inhalte des antiken Kulturbewußtseins?
Drei Motive lassen sich unterscheiden. Es ist erstens das religiöse
Motiv, das das Lebensverhältnis des einzelnen nach allen Richtungen
seiner Betätigung zum Universum regelt. Zweitens fixiert das theore-
tisch-gegenständliche Motiv im Denken seine Stellung zur umgeben-
den Erdenwirklichkeit und drittens läßt sich ein willentlich-prakti-
sches Motiv erkennen, das das menschliche Handeln als bedingt durch
die Normen der Verhältnisse der menschlichen Gemeinschaften be-
stimmt.
Das erste Motiv bezieht den Menschen auf die Einheit von Diesseits
und Jenseits, das zweite Motiv auf die Erkenntnis des Diesseits und
das dritte auf das Handeln im Diesseits.
Diese metaphysischen Gestaltungskräfte als einen wesentlichen Fak-
tor des kantischen Denkens herausheben, heißt, aus der Linie des-
jenigen Kantbegreifens, das unter dem Namen des Neukritizismus zu
gehen pflegt, grundsätzlich heraustreten. Daß dieses System im emi-
nenten Sinne von den Gestaltkräften des Logischen und Erkenntnis-
theoretischen getragen ist, soll nicht bestritten werden, ja wird im
folgenden ausdrücklich betont werden. Aber die tiefere Einheitsschau
des Systems läßt sich nur gewinnen, wenn man für die metaphysi-
schen Inhalte den ihnen zukommenden Platz innerhalb des Systems
freilegt.
Das religiös-mythologische Motiv herrscht namentlich in den älteren
Entwicklungsstufen der Völker und ist als Lebensmacht in der Kul-
tur der östlichen Völker bis zu ihrem Verfall herrschend geblieben.
Alles Denken und Forschen lag da meist in den Händen des Priester-
standes einschließlich besonders wirksamer, vereinzelter religiös ver-
20