Full text: Kant

Im Pietismus werden die alten deutschen Mystiker, besonders 
Böhme, in den radikaleren Schichten der populären Richtung wieder 
lebendig. Die Erlösung ist das zentrale Erleben, das ohne kirchliche 
Vermittlung als unmittelbarer dauernder Verkehr mit Gott erfahren 
und gedeutet wird. Dabei hat der Pietismus ein eigentümlich rational 
utilitarisches Verhältnis zur Welt, ähnlich dem Calvinismus und dem 
englischen Puritanertum. Die Welt, ihre Naturwirklichkeit ist für 
den Pietisten eine Ordnung von Zwecken und Mitteln, denen kein 
Eigenwert zukommt, sondern sie befinden sich ausschließlich in der 
dienenden Stellung als Möglichkeiten zur Heiligung Gottes, ohne daß 
damit hinsichtlich der Wege zu dieser Heiligung Bindungen an über- 
lieferte religiöse Glaubenssätze und Ordnungen gefordert würden. 
Dieser asketisch-nüchterne Sinn für strenge Arbeit zwingt zugleich 
unter sich die weltlichen Werte der Wirtschaft, des Verkehrs und der 
industriellen Technik wie des ökonomisch arbeitenden Handwerker- 
tums und bindet sie den Gesamtzielen des weltlichen Handelns mit 
ein. Diese ganze Arbeit an der Welt und Gestaltungsmöglichkeit der 
Natur mit ihrer Materie und deren gesetzlicher Verknüpfung wird 
ganz und gar getragen von einer selbständigen moralischen Gesin- 
nung, die das Individuum hinsichtlich seines ganzen Tuns und Las- 
sens auf Erden auf eigene Füße zu stellen sucht. Diese neue christ- 
liche Sittlichkeit schließt sich daher nicht an bestimmte kirchlich- 
regimentale oder kultische Vorschriften an, sondern das mystisch 
erlebbare Sehnen und Erlöstwerden in Gott bilden die letzte begrün- 
dende Motivation für diese innerweltliche Askese im Lebenswerk des 
einzelnen”. 
Das Willensmotiv Jacob Böhmes, die Naturmystik des Paracelsus, 
der mit Innigkeit und freudigem Schauen Gottes erlebte Seelengrund 
Eckeharts gewinnen unter dem Druck der allgemein auch in Deutsch- 
land sich verbreitenden Aufklärung immer deutlicher und kräftiger 
herausgearbeitete rationale Züge. Sie bereiten mit der jetzt erreich- 
ten Höhe begrifflicher Fixierung für die moralische Selbstgesetzlich- 
keit in der Tiefe des Ich, für die aus dem Ich als Denkmöglichkeit 
hervorquellende Anschauung der Naturordnung und für die in den 
transzendenten Ideen von Gott, Welt und Seele sich vollziehende Ein- 
heit der Vernunft als dem geistigen Ordnungsmikrokosmus gegenüber 
dem Chaos des bestehenden Wirklichen bei Kant unmittelbar den 
Weg. 
In dreifacher Weise ist, wie jetzt offenbar geworden, die kantische 
Philosophie mit dem geistigen Leben der vorangehenden Kultur ver- 
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