ist Wahrheit überhaupt? gar nicht erst auf, sondern, diesen Begriff
voraussetzend, fragt sie nur nach der Wahrheit der Erkenntnisse, die
auf Gegenstände der Erfahrung gehen. Man schließt an diesem Punkte
nicht selten so: die Antwort auf die Frage nach dem Wahrheitsbegriffe
überhaupt kann nicht wieder aus dem Begriff der Wahrheit über-
haupt beantwortet werden, weil sonst ein Zirkel entstände, mithin for-
dert sie ein Herausgehen aus dem durch diesen Begriff umschlossenen
Problemkreise. Dann blieben zur Beantwortung nur Tatsachen, aber
nicht Prinzipien zur Verfügung und dies bedeutete wiederum einen
Zirkel. In der Tat wäre, wenn es sich so verhielte, Kant gerade inbezug
auf das erste und höchste Wahrheitskriterium dogmatisch geblieben
und das Wort Kritizismus dürfte sich im strengen Sinne nicht an sei-
nen Namen heften. Die Gestalt des kantischen Systems wäre unkri-
tisch und Kant wäre damit grundsätzlich nicht über die philosophi-
schen Methoden des Rationalismus und Sensualismus, wäre nicht über
Leibniz und Hume hinausgekommen.
Nun gibt es aber im Begriff der Wahrheit gewisse Momente, die
sich selbst in ihrer Gültigkeit begründen. Daher kann im Hinblick
auf den allgemeinsten Wahrheitsbegriff nicht der Vorwurf des Zirkels
erhoben werden. Wie aber soll es die Erkenntniskritik anstellen, um
gerade dieser sich selbst begründenden Begriffe in der Erkenntnis
habhaft zu werden? Die Frage indessen, wie Erkenntnis möglich sei,
d.h. wie sie begründet werden kann — denn daß sie möglich ist,
wird von Kant niemals bestritten — setzt stets eine Antwort voraus,
die die Gestalt des Urteils hat, wie denn jede Frage überhaupt als
Antwort ein Urteil voraussetzt. Die Urteilsgesetzlichkeit also ist es,
die in jeder, also auch in der Frage nach dem Wahrheitsbegriff, vor-
ausgesetzt werden muß. Diese Gesetze des Urteils, die das Urteil un-
abhängig von seinem besonderen Inhalt bestimmen, müssen von der
Fragestellung als gültig und als bereits erkannt vorausgesetzt werden.
Sie dürfen aber als gültig vorausgesetzt werden, weil jede Verneinung
ihrer Gültigkeit schon wieder ihre Gültigkeit einschließt. Denn die
Verneinung müßte selbst wieder ein gültiges Urteil sein. Die Wissen.
schaft aber von der Form des Urteils ist die formale Logik. Die Logik
ist die Theorie des allgemeinsten Wahrheitsbegriffs. Also durfte Kant
nicht bloß das Gültigsein, sondern auch das Erkanntsein der sich
selbst begründenden Begriffe im Erkenntnisbegriff voraussetzen. Über
die erste Voraussetzung spricht sich Kant nicht besonders aus, wohl
aber über die zweite. Er tut über die formale Logik und deren Zu-
stand des Erkanntseins den berühmten Ausspruch in der Vorrede zur
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