Full text: Das Weltbild der Gegenwart

196 Die Kultur 
Zwölftes Kapitel 
Religion und Sittlichkeit 
Von den höheren Gebieten des Lebens tritt auf 
frühester Stufe am ehesten die Religion hervor. Wir 
verstehen darunter die persönliche Beziehung des Men- 
schen zum Übersinnlichen. Sie ist ein Erlebnis, das wohl 
nur in wenigen Menschen wirklich ganz fehlt, wie es 
andererseits, zum mindesten in der Gegenwart, nur in 
wenigen so stark ist, daß es ein dauerndes Phänomen 
darstellt und Einfluß auf ihr Leben besitzt. Das Ver- 
hältnis zum Übersinnlichen besteht auf allen Kulturstufen 
wenigstens teilweise in spezifischen Erlebnissen, wie sie 
im profanen Leben nicht vorkommen. : 
Es gibt keinen noch so primitiven Stamm, der nicht 
Anfänge von Religion zeigte. Die entgegengesetzten Be- £ 
richte von Reisenden des 19. Jahrhunderts haben sich ! 
sämtlich als unzutreffend erwiesen. Eine flüchtige Be- 
rührung mit den Eingeborenen erlaubt keine Einsicht in 1 
ihr religiöses Leben. Eine solche kann nur ein Forscher ; 
wenigstens in gewissen Grenzen zu erlangen hoffen, der 
längere Zeit unter ihnen lebt. Es sind aber bisher erst 
wenige, welche in dieser Weise ihre Studien betrieben 
haben. Unser Wissen um die Primitiven ist durch sie in 
wichtiger Weise bereichert worden. Dennoch fehlt noch 
viel daran, daß wir sagen könnten, wir verstehen die Pri- v 
mitiven in ihrem Seelenleben, wir können es nachfühlen. L- 
Soweit wir bisher sehen, ist das Hauptgefühl des f 
Primitiven gegenüber dem Übersinnlichen ein Grauen, ein V 
metaphysisches Angstgefühl. In einzelnen Fällen scheint V 
auch ein eigentümliches Feierlichkeitserleben, eine ge- k 
hobene Stimmung durch das Bewußtsein der Nähe über- a 
weltlicher Mächte vorzukommen. Aber es fragt sich, ob 
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