202 Die Kultur
etwa bei den Propheten), dazu war der Abstand zwischen
Gottheit und Mensch dauernd zu groß. Das Griechentum
dagegen lebt im Gefühl des Zusammenhangs mit dem
Göttlichen. In erhöhten Stunden ist es dem Menschen
möglich, mit Gott in Berührung zu kommen. Hier liegt
der schärfste Unterschied zwischen arischer und semi-
tischer Religiosität. Nur in Ausnahmefällen und immer
nur unter arischem Einfluß kommt semitische Religiosität
zu ähnlichen Erlebnissen.
Vom Griechentum haben sich die mystischen Erleb-
nisse auf das Christentum übertragen und bedingen in
ihm die gesamte Mystik. Doch wurde dieselbe in ihm
nicht zur herrschenden Religiosität, — im Gegensatz zu
Indien, wo sie allmächtig wurde. Der tiefste Unterschied
aber zwischen indischer und europäischer Religiosität ist
begründet durch die größere Lebenskraft der europäischen
Völker. Anders als die Inder stehen sie der Welt gegen-
über da, als ihre Beherrscher und Kämpfer, nicht als
bloße Genießer und ermattet von ihr Befreiung Suchende.
Das Erlösungsbedürfnis auf europäischem Boden geht von
der vorchristlichen griechisch-römischen Epoche an bis
zum Anbruch der Neuzeit auf Befreiung von der Sünde,
Nicht vom Leiden oder vom Leben überhaupt.
Ein überaus merkwürdiges Phänomen stellt der
Islam dar, insofern wir es bei ihm mit einer welt-
geschichtlich wirksam gewordenen religiösen Neubildung
zu tun haben, die nicht an die vorhandene höchste Reli-
gionsform anknüpfte, sondern im Gegenteil eine ältere,
längst überholte Stufe des Judentums neu belebte.
In der _europäisch-vorderasiatischen Religiosität
herrscht die Überzeugung von dem Persönlichkeits-
charakter des Göttlichen. Ein allgemeiner Monotheismus
besteht dagegen auch in ihr nicht. Am wenigsten im