204 Die Kultur
Erzeugens, sondern das Erhabene der Ruhe. Die Müdig-
keit des Inders, der weich empfänglich allen Sinnes-
eindrücken offensteht, aber zugleich ermattet von allem
Leben ist, findet in dem Bewußtsein der Einheit mit dem
Unendlichen, Einen, aus dem er selbst hervorgegangen
ist, eine Erhebung und Beruhigung. Das Erlebnis stillster
Wonne, das Nirvana, in. das er eintaucht, gewährt ihm
die ersehnte Erlösung vom Leben des Willens, vom indi-
viduellen Dasein; denn in jenen Versenkungszuständen
schwindet das Bewußtsein, eine eigene Persönlichkeit zu
sein. Das selige Nirvana ist aber nicht erreichbar ohne
Verzicht auf allen Egoismus, ja nicht ohne sittlich-
asketische Entsagung von allem irdischen Verlangen, so
daß auch in dieser „Religion ohne Gott“ das Ethische Be-
dingung ist. Die Nirvanaerlebnisse sind die spezifisch
indischen Erfahrungen vom Göttlichen. In etwas gemil-
derter Form kehren sie in weiten Gebieten auch der mon-
golischen Welt wieder. Diese Erhebungen der Seele
sind von denen der europäischen Religiosität außer-
ordentlich verschieden, dennoch gehören sie mit ihnen
in einen und denselben Bezirk seelischen Lebens. hinein,
auch sie sind unzweifelhaft religiöser Natur und nicht
etwa rein ethischer, geschweige denn äÄästhetischer oder
etwa: bloß weltlicher Natur. Das Individuum fühlt sich
eins werdend mit dem Weltgrund.
Auf der Stufe der Hochkultur tritt überall die
Religion zurück. Es ist das Denken, das ihre Macht zer-
setzt. Die Hochkultur, wie sie innerhalb der antiken
Welt durch die griechische Philosophie heraufgeführt
wurde und auch in der modernen Welt seit der Renais-
sance mehr und mehr sich ausbildete, basiert die Welt-
anschauung auf die Erkenntnis. Sie erkennt Bindungen,
die sich nicht durch den Verstand begründen lassen,