208 Die Kultur
Eltern bei manchen Primitiven erfahren haben. Galten
beide früher bedingungslos in allen Fällen als Ausdruck
egoistisch tierischer Roheit, so wissen wir heute, daß der
Ursprung des Kannibalismus ein magischer ist: der
Glaube, mit dem Verzehren des Feindes seine bedeutenden
Eigenschaften, vor allem auch seine Tapferkeit, sich zu
eigen zu machen; bei den hochstehenden Indianern ist
denn auch niemals daraus ein kulinarischer Genuß ge-
worden. Das Töten der alten Eltern gar ist nicht ein
Akt pietätlosen Egoismus, sondern die Erfüllung einer
sittlichen Pflicht, die mit höchster Feierlichkeit und wohl
nicht ohne schwere Selbstüberwindung geschieht. Diese
Beispiele zeigen, welche Vorsicht bei der Beurteilung von
Handlungen erforderlich ist. Von der primitivsten bis
zur höchsten Stufe ist das allein Entscheidende die Ge-
einnung. Sie sichtbar zu machen, ist die erste, heute
noch in weitem Umfange unerfüllte Bedingung einer Ge-
schichte der sittlichen Erlebnisse. Wir wissen heute in
vielen Fällen noch so gut wie nichts über den Kampf
des sich vertiefenden sittlichen Bewußtseins mit der Ge-
wohnheit der Tradition, während gerade in diesem Punkte
die Verfeinerung der sittlichen Gefühle zutage treten
mußte. Die Sittengeschichte beschreibt die Aufeinander-
folge, den Wechsel der Gewohnheiten, ohne auf die den
Wechsel bedingenden Momente hinreichend einzugehen.
Noch sind wir also weit davon entfernt, die sittliche Ge-
schichte des Menschengeschlechts zu überblicken, aber
so viel ist doch schon deutlich geworden, daß es sich auch
hier. um eine Einheit, nicht um ein Gewirr im Sinne des
Relativismus handelt. Es ist kein Zufall, daß die Sitten-
sprüche Jesu, Buddhas und des Konfuzius einander. teil-
weise bis auf den Wortlaut gleich sind.