Full text: Die Kunst der Gotik (7)

vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert — ihre größte Kraft in der In- 
tensität ihrer Strahlungsfelder, die den Kristall des Abendlandes immer viel- 
flächiger aufbauen, bis ihn endlich die Vielheit seiner Teilenergien zum Zerfall 
bringt. Mit dem geistesgeschichtlichen Augenblick, in dem die Kristallisations- 
achse des mittelalterlichen Abendlandes den tödlichen Stoß aus der Mitte 
ihrer Energie erhält — beruhend in der vorläufigen Gleichung vom Menschen 
als dem Letzten der Dinge —, beginnt die Extensität der Neuzeit und endigt 
das Gotische. 
Damit ist gesagt, daß Gotik nicht nur Krönung, sondern ebensosehr Lösung 
des Mittelalters bedeutet. Krönung, letzte und höchste Macht, und Lösung, 
letzter und entscheidender Widerspruch — jeweils auf die mittelalterliche Ge- 
samtidee vom Bilde dieser Welt bezogen —, beides ist im Ausdruck und Um- 
fang gotischer Kultur beschlossen, ist Gesetzmäßigkeit ihrer Struktur wie ihres 
Ablaufes. Die freie Höhe eines Menschenideals, wie es die frühe Gotik schaute, 
ruht in dem eisernen Ring ihrer selbstgefügten Ordnung; des Einzelnen Be- 
dingtheit ist Aller Freiheit, und das frohe Wissen um solches Gesetz legt auf 
das Gesicht des dreizehnten Jahrhunderts die hohe Klarheit einer klassischen 
Zeit. Die Freiheit des Einzelnen erringt die späte Gotik — wenigstens relativ 
im Verhältnis mittelalterlicher Mentalität — um den Preis der Umschränktheit 
Aller: Land gegen Land, Stadt gegen Stadt, Stand gegen Stand. Nicht als ob 
solches Verhängnis zu irgendeiner Wertung berechtigte, denn die Tiefen 
menschlichen Schicksals bleiben gleich, nur die Aspekte sind verschoben. Ob 
Frühgotik oder Spätgotik zu höherer Schönheit befähigt sein kann, wäre eine 
sinnlose Frage, denn das Leben in ihnen ist gleich erfüllt von Gestalt und Idee. 
Werden über Vergehen zu stellen, ist Nötigung menschlichen Gefühls, nicht 
Wirklichkeit geschichtlichen Erkennens, das — der Idee nach — unfühlsam 
sein müßte wie die Natur. 
Weg und Wille mittelalterlicher Weltanschauung erstreckt sich und vollzieht 
sich zwischen den großen Tatsachen eines Augustinus und Pascal. Aus dem 
Pessimismus des spätantiken Afrikaners entspringt eine Linie, die schließlich 
im Pessimismus des spätmittelalterlichen Romanen mündet. Weltverneinung 
als ein aus Überwindung und Abgrund gezeugtes Ideal dort und hier, dort der 
Fluch der Verdammten, hier die Entscheidung des Miles Christianus. Die 
Schale der Lust und die Schale des Zorns wogen in endloser Spannung auf 
und ab. 
Der Aufgang der gotischen Welt ist bezeichnet — innerhalb solcher Span- 
nung — mit der Geburt eines göttlichen Optimismus. Der Träger heißt Thomas 
von Aquin. Dem Lächeln auf den Gesichtern der Statuen des dreizehnten Jahr- 
hunderts vergleichbar schwebt ein Hauch von erdenbefreiter Heiterkeit über 
der Formulieruhig aquinatischer Lehren. Auch ihm ist Spannung und Waage 
Gesetz: Schale der Lust und Schale des Zorns, aber nicht ihr Wogen, die Kraft 
in ihrer Mitten schaut sein Weltbild. Über Lust und Leid steht das Ewige, 
aber es wird nicht aus der Bildresignation des afrikanischen Rhetors und noch 
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