vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert — ihre größte Kraft in der In-
tensität ihrer Strahlungsfelder, die den Kristall des Abendlandes immer viel-
flächiger aufbauen, bis ihn endlich die Vielheit seiner Teilenergien zum Zerfall
bringt. Mit dem geistesgeschichtlichen Augenblick, in dem die Kristallisations-
achse des mittelalterlichen Abendlandes den tödlichen Stoß aus der Mitte
ihrer Energie erhält — beruhend in der vorläufigen Gleichung vom Menschen
als dem Letzten der Dinge —, beginnt die Extensität der Neuzeit und endigt
das Gotische.
Damit ist gesagt, daß Gotik nicht nur Krönung, sondern ebensosehr Lösung
des Mittelalters bedeutet. Krönung, letzte und höchste Macht, und Lösung,
letzter und entscheidender Widerspruch — jeweils auf die mittelalterliche Ge-
samtidee vom Bilde dieser Welt bezogen —, beides ist im Ausdruck und Um-
fang gotischer Kultur beschlossen, ist Gesetzmäßigkeit ihrer Struktur wie ihres
Ablaufes. Die freie Höhe eines Menschenideals, wie es die frühe Gotik schaute,
ruht in dem eisernen Ring ihrer selbstgefügten Ordnung; des Einzelnen Be-
dingtheit ist Aller Freiheit, und das frohe Wissen um solches Gesetz legt auf
das Gesicht des dreizehnten Jahrhunderts die hohe Klarheit einer klassischen
Zeit. Die Freiheit des Einzelnen erringt die späte Gotik — wenigstens relativ
im Verhältnis mittelalterlicher Mentalität — um den Preis der Umschränktheit
Aller: Land gegen Land, Stadt gegen Stadt, Stand gegen Stand. Nicht als ob
solches Verhängnis zu irgendeiner Wertung berechtigte, denn die Tiefen
menschlichen Schicksals bleiben gleich, nur die Aspekte sind verschoben. Ob
Frühgotik oder Spätgotik zu höherer Schönheit befähigt sein kann, wäre eine
sinnlose Frage, denn das Leben in ihnen ist gleich erfüllt von Gestalt und Idee.
Werden über Vergehen zu stellen, ist Nötigung menschlichen Gefühls, nicht
Wirklichkeit geschichtlichen Erkennens, das — der Idee nach — unfühlsam
sein müßte wie die Natur.
Weg und Wille mittelalterlicher Weltanschauung erstreckt sich und vollzieht
sich zwischen den großen Tatsachen eines Augustinus und Pascal. Aus dem
Pessimismus des spätantiken Afrikaners entspringt eine Linie, die schließlich
im Pessimismus des spätmittelalterlichen Romanen mündet. Weltverneinung
als ein aus Überwindung und Abgrund gezeugtes Ideal dort und hier, dort der
Fluch der Verdammten, hier die Entscheidung des Miles Christianus. Die
Schale der Lust und die Schale des Zorns wogen in endloser Spannung auf
und ab.
Der Aufgang der gotischen Welt ist bezeichnet — innerhalb solcher Span-
nung — mit der Geburt eines göttlichen Optimismus. Der Träger heißt Thomas
von Aquin. Dem Lächeln auf den Gesichtern der Statuen des dreizehnten Jahr-
hunderts vergleichbar schwebt ein Hauch von erdenbefreiter Heiterkeit über
der Formulieruhig aquinatischer Lehren. Auch ihm ist Spannung und Waage
Gesetz: Schale der Lust und Schale des Zorns, aber nicht ihr Wogen, die Kraft
in ihrer Mitten schaut sein Weltbild. Über Lust und Leid steht das Ewige,
aber es wird nicht aus der Bildresignation des afrikanischen Rhetors und noch
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