Full text: Die Kunst der Gotik (7)

die klar stehen wie der ausholende Hieb eines erprobten Fechters. Aber die 
gleiche Spannkraft mußte weitertreibend das Fleisch der Blätter gleichsam 
verbrennen; die wogenden Gewinde ihrer Rippen werden alle Kraft in sich 
ziehen, und der sausende Rausch der Linienbetörtheit wird die Maßwerke auf- 
fasern und mit Zuckungen laden wie bloßgelegtes Nervengeflecht, oder er wird 
die Knoten und Schöße ihrer Bogen und Stege mit Übertrieb umkleiden wie 
Pflanzenwerk in übersättigter Erde. Der Weg von plastischer Fülle zur Ab- 
straktion der linearen Orgie ist der Weg des Nordens: im Flamboyant nicht 
minder als im Gitterwerk englischer und deutscher Flächenfüllung des fünf- 
zehnten Jahrhunderts — der Weg zur Hypertrophie des körperhaften Schmuck- 
werks ist im romanischen Westen: in Südfrankreich und Spanien gegangen 
worden — Italien hat diesen Weg nur im Trecento betreten (Ferrara, Dom- 
fassade, Abb. 340, und Venedig, Abb. 190, Taf. IV). Im Norden konnte das 
verglühte Gebilde des gotischen Ornamentes wohl auf Jahrhunderte von dem 
neuen plastischen Sinn, der mit der Renaissance von Italien kam, über- 
schichtet werden, in einer guten Stunde des achtzehnten Jahrhunderts hat es 
als Rocaille noch einmal eine Welt sinnhafter Freude umsponnen. An einem 
ist festzuhalten: innerhalb keiner Epoche abendländischer Kunstgeschichte 
hat sich die Zeichensprache eines über allen Mundarten der Völker stehenden 
Gemeinsamen in gleichem Maße zu behaupten gewußt, wie das mit dem 
gotischen Ornament des dreizehnten Jahrhunderts geschah. 
Das ist die Blütezeit der wandernden Meister und Hütten. Von dem Vielen, 
das über Organisation und Persönlichkeit im Baubetriebe der Gotik festgestellt 
ist, scheint für die innere Linie des Stils vor allem eines wesentlich: das, was 
man etwa mit werkmäßigem Denken umschreiben könnte. Denn für die Ge- 
samtheit gotischer Baukunst ist in einem Maße, wie für keinen Stil vorher noch 
nachher, die geschulte Vielheit künstlerischer Kräfte ausschlaggebend, das 
eiserne Gesetz einer Werkverbundenheit, ohne das der gigantische, auf Jahr- 
hunderte des Entstehens ausgestreckte Umfang seiner großen Schöpfungen im 
Geheimnis seiner künstlerischen Einheit nie wird erklärt werden können. Nur 
ein Organisationsbetrieb, der wie die Ordnung der Dombauhütten jedem die 
unumschränkte Gleichheit der Lehre gab und von jedem die gleiche langjährig? 
Erfahrung weitzügiger Wanderschaft forderte, wenn er aufsteigen wollte auf 
der Pyramide der Hüttenleute, der inmitten dieser Fülle fähiger Kräfte gleich- 
zeitig unerbittliche Gewalt ausübte gegenüber der künstlerischen Freiheit im 
Grundsätzlichen (im Generalplan einer Kathedrale und wohl auch im Grund- 
plan etwa einer werdenden Stadt), ihm dafür jede Freiheit der Invention ge- 
während innerhalb der Einzelheit schmückender Zutat — nur diese großartige 
Einmut eines kollektivistischen Werksystems war befähigt, die Kathedrale zu 
erschaffen. Dazu bedurfte es allerdings letztlich der Eingebundenheit in ein 
Weltsystem, in dem die Hingabe stets absolut, das persönliche Verdienst stets 
relativ blieb — die Chroniken der klassischen Gotik kennen Künstlernamen nur 
zufällig, denn wer an der Spitze der Pyramide stand, hatte zuletzt kein höher 
20
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.