zu. Die Gruppe der Seligen und die Seelen tragenden Engel zu Seiten Abrahams
im Tympanon des Gerichtsportals (Abb. 383) wird man unter die schönsten
Werke zählen dürfen, die das dreizehnte Jahrhundert überhaupt vollbrachte;
so reine Schönheit eines ganz hohen Menschenideals wird selten geschaut. Hat
man sich einmal mit dem allzu Metrischen in der Komposition des Sixtus-
Tympanons (Abb. 382) abgefunden, so mag der volle Klang majestätischer
Pose, der von dem segnenden Papste gewissermaßen intoniert durch das ganze
Werk wogt, ein Vorwärts im Sinne des Neuen bedeuten; der Reichtum rhyth-
mischer Schwingungen führt über Amiens hinaus.
Unter solchen Auspizien erwächst das Opus der Reimser Westportale. Der
Brennpunkt des Klassischen innerhalb gotischer Bildnerei. Die Welt der
Kathedralen in ihrer eigensten Gestalt hat nie ein höheres Maß menschlicher
Ganzheit gesehen; ein durchaus persönlicher und nationaler Stil ward nie in
höherem Maß allgemeiner Ausdruck des christlichen Abendlandes.
Das Programm ist künstlerisch kaum merklich verändert. Daß man auf das
herkömmliche Bogenfeld in den drei Pforten verzichtet (Taf. VII), indem man
an ihre Stelle Fenstermaßwerke setzte, ist tiefe Weisheit: zwischen dem Innen
und Außen des Kirchenleibes hat sich der Kontakt noch enger geschlossen. Die
Statuen der Gewände sind nicht mehr Begleiter des Bildprogrammes, das sich
im Bogenfeld abspielt, sie sind unmittelbar Wächter und Zeugen der Kirche.
Von ihrer Statistenrolle eines geistlichen Schauspieles, die sie auch in Amiens
schließlich noch innehaben, sind sie zu Handelnden emporgestiegen, nicht
allein hinweisend, sondern teilnehmend an dem Heilsgeschehen, dessen Träger
sie sind. Und so hat sich die Reihe mit den Repräsentanten der Kirche selbst,
des Reiches „sub gratia‘, wie der mittelalterliche Begriff lautet, am nörd-
lichen Seitenportal zu einem vollen Triumphzug erhoben: Nicasius, der Patron
und Herr der Stadt der Krönungskathedrale tritt zwischen Engeln unter sein
Volk (Abb. 388).
Der stilistische Verlauf in der Geschichte der über das ganze dreizehnte
Jahrhundert und weiterhin an der Reimser Westfassade tätigen Hütten setzt
ein etwa mit den Prophetenfiguren, die jetzt am rechten Gewände des südlichen
Nebenportals (Abb. 385) stehen, und der schon erwähnten Gruppe der Ver-
kündigung (Abb. 387). Wieder heben sich die Figuren, wie in Chartres, gleich-
sam schwebend auf ihren Sockeln; der Schwerpunkt scheint etwa in der Mitte
der Leiber zu liegen. Aber der Ausdruck der Gesichter, der Falten ist wilder
durchglüht von Aktivität, als das je in Chartres geschah; in Abraham oder
Jesaia wird der Prophet des alten Bundes mit urweltlicher Gewalt und Dämonie
geschildert, ein schütternd gewaltsamer Klang kommt von diesen Recken. Es
ist der Tenor des alten Bundes.
Eine höhere Welt! Die Figuren des Mittelportals (Taf. XXI, Abb. 384, 385);
Christi Ahnherrn und die ihm zunächst. Salomo und die Königin von Saba;
Joseph und Maria, Simeon und Anna auf der einen Seite, Verkündigung und
Heimsuchung auf der anderen. Die Heimsuchung haben die neuen Meister
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