Full text: Die Kunst des Klassizismus und der Romantik (14)

E I N L E I x U N G 
Wenn wir als den höchsten Gegenstand der Geschichtschreibung nicht 
die Verkettung politischer und kriegerischer Ereignisse, sondern die Ent- 
wicklung der Kultur ansehen, so bezeichnen Klassizismus und Romantik das 
Finale einer tausendjährigen europäischen Epoche und den Beginn eines 
neuen Abschnittes. Sie bezeichnen beides, denn hier wie überall gehört 
es zu den hohen Aufgaben der Kunst, den Verlauf des historischen Ge- 
schehens symbolhaft darzustellen. 
Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts setzen beide Bewegungen 
ein — sehr bald nacheinander. In der bildenden Kunst macht der Klassizis- 
mus den Anfang. Dann gehen sie nebeneinander her, sich bekämpfend, sich 
berührend und manchmal einen Ausgleich suchend, während ihre Bedeutung 
sich bei den verschiedenen Völkern keineswegs gleich bleibt. 
Ihr Gegensatz stellt sich besonders deutlich in England dar, das hiermit 
nicht zum ersten Male, wohl aber seither zum letzten Male eine bedeutsame 
Rolle in der europäischen Kunstgeschichte spielt. Dabei waltet kein Zufall; 
denn England erlebt damals sein großes Zeitalter. Als das reichste und wirt- 
schaftlich mächtigste Land der Welt steht es, im Inneren gefestigt und be- 
ruhigt, zugleich vor Europa als der Hort der Freiheit und als das Vorbild 
liberaler Verfassung. Es bringt Staatsmänner ersten Ranges hervor und er- 
freut sich einer Kultur, die nicht vom Hofe des Monarchen, sondern von 
einer ausgebreiteten vornehmen Gesellschaft getragen wird. Der Typus des 
bürgerlichen Kulturträgers, der das neunzehnte Jahrhundert beherrscht, 
wird damals in England geprägt. Zugleich erhebt sich die bis dahin un- 
beträchtliche englische Malerei zu hoher Blüte und zählt eine Reihe ruhm- 
würdiger Meister, die zwar nicht revolutionierend wirken, aber sich ganz 
unvergleichlich dem Gesamtbilde der nationalen Kultur einfügen und ihr ein 
glänzendes Denkmal setzen. Bezeichnend ıst für diese englische Kulturwelt 
die Wirksamkeit der gesellschaftlich organisierten Dilettanten, die sich 
künstlerische und wissenschaftliche Unternehmungen angelegen sein lassen. 
Die europäischen Bewegungen des Klassizismus und der Romantik sind 
nun aber keineswegs nur als national und historisch beschränkt anzusehen, 
vielmehr von überhistorischer Bedeutung. Denn es sind die für uns letzten 
ganz klaren Erscheinungsformen der beiden polar entgegengesetzten Rich- 
tungen des Kunsttriebes überhaupt, wie sie von den Anfängen der Mensch- 
heitsgeschichte an sich. zeigen, um alle weitere Zeitfolge in ihrem Wandel 
zu begleiten.
	        
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