E I N L E I x U N G
Wenn wir als den höchsten Gegenstand der Geschichtschreibung nicht
die Verkettung politischer und kriegerischer Ereignisse, sondern die Ent-
wicklung der Kultur ansehen, so bezeichnen Klassizismus und Romantik das
Finale einer tausendjährigen europäischen Epoche und den Beginn eines
neuen Abschnittes. Sie bezeichnen beides, denn hier wie überall gehört
es zu den hohen Aufgaben der Kunst, den Verlauf des historischen Ge-
schehens symbolhaft darzustellen.
Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts setzen beide Bewegungen
ein — sehr bald nacheinander. In der bildenden Kunst macht der Klassizis-
mus den Anfang. Dann gehen sie nebeneinander her, sich bekämpfend, sich
berührend und manchmal einen Ausgleich suchend, während ihre Bedeutung
sich bei den verschiedenen Völkern keineswegs gleich bleibt.
Ihr Gegensatz stellt sich besonders deutlich in England dar, das hiermit
nicht zum ersten Male, wohl aber seither zum letzten Male eine bedeutsame
Rolle in der europäischen Kunstgeschichte spielt. Dabei waltet kein Zufall;
denn England erlebt damals sein großes Zeitalter. Als das reichste und wirt-
schaftlich mächtigste Land der Welt steht es, im Inneren gefestigt und be-
ruhigt, zugleich vor Europa als der Hort der Freiheit und als das Vorbild
liberaler Verfassung. Es bringt Staatsmänner ersten Ranges hervor und er-
freut sich einer Kultur, die nicht vom Hofe des Monarchen, sondern von
einer ausgebreiteten vornehmen Gesellschaft getragen wird. Der Typus des
bürgerlichen Kulturträgers, der das neunzehnte Jahrhundert beherrscht,
wird damals in England geprägt. Zugleich erhebt sich die bis dahin un-
beträchtliche englische Malerei zu hoher Blüte und zählt eine Reihe ruhm-
würdiger Meister, die zwar nicht revolutionierend wirken, aber sich ganz
unvergleichlich dem Gesamtbilde der nationalen Kultur einfügen und ihr ein
glänzendes Denkmal setzen. Bezeichnend ıst für diese englische Kulturwelt
die Wirksamkeit der gesellschaftlich organisierten Dilettanten, die sich
künstlerische und wissenschaftliche Unternehmungen angelegen sein lassen.
Die europäischen Bewegungen des Klassizismus und der Romantik sind
nun aber keineswegs nur als national und historisch beschränkt anzusehen,
vielmehr von überhistorischer Bedeutung. Denn es sind die für uns letzten
ganz klaren Erscheinungsformen der beiden polar entgegengesetzten Rich-
tungen des Kunsttriebes überhaupt, wie sie von den Anfängen der Mensch-
heitsgeschichte an sich. zeigen, um alle weitere Zeitfolge in ihrem Wandel
zu begleiten.