Exsier Teil. 85.
Ja, es sollen alle unsere Leidenschaften aufgeregt werden,
aber anders als in der gemeinen Wirklichkeit. Aristoteles sagt
von der Tragödie: sie soll dur<h die Darstellung einer geschlossenen
ernsten Handlung Mitleid und Furcht erregen, aber diese Affekte
zugleich reinigen. Mit diesen kurzen Worten umfaßt er alles,
wodur< uns eine Tragödie bewegt. Wir erkennen, es kommt
darauf an, alle diese Leidenschaften einem Ziele zuzuführen, und
wir müssen am Schlusse entlassen werden mit dem beruhigen-
den Gefühl der Ehrfur<t vor einer sittlihen Weltordnung.
Also volles Versezen, Versenken der Seele, aber dazu volle
Freiheit der Seele, und dieses ganze dadur< no< modifiziert,
daß wir wissen: wir stehen nur einem Sceinbild gegenüber,
das nicht die gemeine empirische Wahrheit hat, sondern nur eine
Wahrheit von allgemein mens<hliher Bedeutung, oder dadur,
daß wir das in der Wirklichkeit Geshaute als bloßes Bild zu
betrachten vermögen. So läßt uns ein Drama, eine Tragödie
empfinden: das ist Menschenart, Menschenleben, Mens<enlos.
Othello und Desdemona sind ja keine wirklihen Wesen. Wir
haben also ein eigentümliches Interesse, aber es ist Interesse
ohne Interesse; es ist Spiel.
Spiel! Diesen Begriff hat Schiller auf das Schöne an-
gewendet und in den Briefen „Ueber die ästhetis<e Erziehung
des Mensc<en“ mit seiner bekannten Beredsamkeit ausgeführt.
Schon Kant hat den Ausdru>k gebraucht in dem Werke, womit
er zum Aufbau der Aesthetik den ersten wichtigen Grundstein
gelegt hat: in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“. Er sagt:
dem Schönen gegenüber befindet sich unser Denken und unsere
Einbildungskraft und zugleich der ganze Komplex unserer sinn-
lihen Gefühle in einem wechselseitigen Spiel. Das hat nun
Schiller aufgenommen und entwickelt. Er definiert den Be-
griff Spiel als ein Gleichgewicht zwischen der idealen „5 rein
geistigen Thätigkeit der Seele und unserer Sinnlichkeit (welche
nach seinem Begriff die Sinnenwahrnehmungen und Empfin-
dungen, sowie die innere Sinnlichkeit, das seelisc<e Gefühl, die
Einbildungskraft und Phantasie umfaßt) als ein Wiegen. Dieser
Ausdru> ist ganz richtig; ein solches Wiegen findet statt in
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