Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Erster Teil. 86. 
merischer, ahnungsvoller Seelenzustände. Nehmen Sie zZ. B. 
Goethes Lied an den Mond, unter den Tausenden von Mond- 
liedern vielleicht das schönste; sehen Sie, wie hier diese Be- 
leuchtung wirkt und die Stimmung erzeugt, zu empfinden: 
Was von Menschen nicht gewußt, 
Oder nicht bedacht, 
Durch das Labyrinth Brust 
Wandelt in der Nacht. 
Sie fühlen in dem Gedicht auc< das eigentümlich leise Wan- 
delnde im Versmaß und in der Folge der Vokale und Kon- 
sonanten. 
Wir sprechen vom „grollenden Gewitter“. Das wäre ja 
ein unsinniges Bild, wenn wir nicht überhaupt Stimmung in 
die Naturereignisse legen würden. 
Sciller sagt im Spaziergang vom Waldbach: „Durch Felsen 
bricht er sich entrüstet die Bahn.“ Wie wahr! Wer im Ge- 
birg einem wilden Wassersturz zusieht und nicht so sehr sich hin- 
einverjeßen kann, daß er wähnt, die Wasser wüten über ihre 
Hindernisse hinweg, wer dieses Phantasievermögen nicht mit- 
bringt zu den bloßen Naturerscheinungen, der kann zu Hause 
bleiben. 
53m Vorspiel zu Goethes Faust heißt es vom Dichter: 
„Wodur< bewegt er alle Herzen ? 
Wodurch besiegt er jedes Element? 
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt 
Und in sein Herz die Welt zurückeschlingt 2" 
Wir legen die Natur an unsere Brust und legen uns an ihre 
Brust. Indem wir sie in unsere Seele hereinnehmen, Dur<- 
tränfen wir sie mit Seele. 
„Wer läßt den Sturm zu Leidenschaften wüten?“ Wer be- 
jeelt die Natur? Jeder Mensc< beseelt die Natur, aber ganz und 
voll nur der Dichter. Der begleitet das Bild der Leidenschaft 
jo mit dem Sturm, daß man meint, dieser habe auch Leiden- 
j<aft. Namentlich auf Shakespeare möchte ich Sie aufmerksam 
machen. Es ist bei diesem Dichter, als ob Nervenfäden vom 
Mensc<en unsichtbar in die Natur liefen, so daß seine Seele 
9?
	        
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