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würde notwendig Vergötterung eintreten). Die Alten aber glaubten
mit Ernst an diese Vorstellungen.
Der Quell, der Bach, der Fluß, der See, das Meer wird
lebend, und so hatten ja die Wasser in Hellas alle ihre Götter
und Dämonen; so hatte jede Landschaft ihren Genius. Aus
dieser Beseelung der Natur ist jener reiche Olymp hervorgegangen,
welchen Schillers „Götter Griechenlands“ gewidmet sind. Die
Dichterphantasie sehnt sich nach der ungemeinen Schönheit,
welche darin liegt, daß ein ganze3 Volk so phantasievoll war,
die gesamte Natur zu beseelen und mit Göttern zu bevölkern.
ES ist ganz geistlos und pedantisch, Schiller deshalb anzugreifen;
wie es ja geschehen ist. Hier spricht eine Dichterstimmung; und
derselbe Dichter kann auc<h ein andermal etwas aus der <rist-
lihen Mythologie besingen, denn auch wir haben noh genug.
Do dies ist hier nicht zu verfolgen.
Die Beseelung wird also zur Personifikation, d. h. zur
Götterbildung. Die in die Natur hinübergelegten Seelen sind
nun Götter. Das Heidentum nimmt sie für wirklih. Für
uns aber sind sie bloßes Spiel der Phantasie und haben da-
durc< ihren ästhetischen Wert. I< erinnere Sie an Goethes
Gedicht: „Der Junggesell und der Mühlbach“, worin das Bäch-
lein ein Leben erhält, als könne es auc< nicht lange genug
verweilen, wo die schöne Müllerin ist.
Wir wollen einmal lesen Mörikes Gedicht: „Mein Fluß“.
Was ist der Gegenstand? Ein Flußbad in der Morgenfrühe.
Sagen Sie das einem phantasielosen Menschen, so wird er
nicht begreifen , was denn daraus zu machen ist. Wir haben
aber jekt hierin nicht einen Genuß zu juchen, sondern wir müssen
uns Rechenschaft geben von seinen Gründen, wir müssen auch
auf die Form ac<ten und uns fragen, warum sie so und nicht
anders wirkt. Bemerken Sie einmal: es sind Jamben, die gehen
bewegt vorwärts, und die Reimfolge wechselt.
O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl !
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und füsse Brust und Wange!