Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Mangelloser Ausdruk des Lebensgehalts. 101 
ausnahmsweise ist in der Natur etwas ohne Tadel. Das ist 
einmal ein Baum, voll des gesündesten Säftelebens der vege- 
tabilis<en Natur und reich ausströmend ihren labenden Duft. 
Das ist einmal ein Roß, ein Hund, da ist alles richtig ent- 
wickelt. Das ist einmal ein Mann, ein Weib, daß wir sagen 
müssen: was Mann, was Weib sein soll, ist hier vollkommen 
da. I< will einen trivialen Ausdru> gebrauchen, weil ich ihn 
brauche; er dient mir zu gut. Es ist ein Gefühl, wie wenn man 
sieht, daß ein Guß gut gelungen, oder daß der Teig gut auf- 
gegangen ist. Der Typus der Gattung ist so über die Natur ge- 
kommen, daß ihr Formtrieb ganz in den Model hineingedrungen 
ist, den sie ausfüllen soll. Model bedeutet ja auc< Modell. 
“ Nun muß man aber diesen Ausdru> unendlich behutsam an- 
wenden, sonst gerät man in Widersprüche; dies ist das Sqwierige. 
Wenn Sie meinen, das Prädikat „vollkommen“ passe nur so ohne 
weiteres auf alles Schöne, so werden Sie sich bald sagen müssen: 
nein, es paßt nur mit Vorbehalt. Und was versteht sic< unter 
diesem Vorbehalt? Einmal folgendes: I< habe gesagt: im 
Schönen ist der Gegenstand, der jezt und hier auszudrücen ist, 
ganz herausgekommen, er ist mangellos ausdrucksvoll. Aber 
der ästhetische Gegenstand kann auc< nach der Forderung des 
gegebenen Zusammenhangs gering, häßlich, gebrechlich, versehrt, 
frank, formlos, verbildet, einseitig sein. Nehmen Sie 3 B. 
folgendes. Cin Landsc<haftsmaler kann einen ganz verfrüppelten, 
von Sturm und Blit zerfehten Baum, armes, elendes Gestrüpp, 
ausgetrodneten, verbrannten Grasboden darstellen, irgend eine 
ärmliche, melancholische Gegend. Da ist also einzelnes ganz 
unvollkommen, aber was er vollkommen zu geben hat, ist der 
melandolis<e Ausdru> des Ganzen. Dieses und dieses zusammen 
ist, so vereint, ästhetisch wohlgefällig. Wenn ein Künstler Kämpfe 
schildert, Shla<htgewühl, Schwerverwundete, Ambulanzen (wie 
z. B. Adam), Mühe, Schmerzen, Kranke, die Not einer Familie, 
das Mitleid mit einem Sterbenden, Teufel, Pharisäer, so handelt 
es sich um den Zwe der furchtbaren Schönheit und seine volle 
Erfüllung. Wo eine Trauerscene mit leidenden Gestalten der 
Gegenstand ist, da wäre es Unsinn, zu verlangen, daß diese
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.