Das Gattung3mäßige und das Jndividuelle. 195
das wahr ist, daß so einer einmal leben konnte. Das Wahre
der Gattung erscheine konzentriert in ein Individuum, so daß
dieses in der äußeren Erscheinung ganz heraustritt.
Ein Deutscher, auf den wir stolz sein dürfen, Holbein,
sehen Sie zu, wie der den Fonds der Persönlichkeit hebt ohne
alle und jede Chikanerie. Der von ihm gemalte Mensc< ist
ganz einfach da, er ist in keinen Moment gesebt, wo er geist-
reich sein soll, er ist in keine Pose gebracht. „Wollen Sie jebt
Ihr Auge heben und ihm ein gewisses Etwas geben,“ dies
Diktum habe ich einmal von einem Photographen gehört. So
etwas hat Holbein gewiß nie gesagt, wenn ihm einer saß.
Nichts da, sondern grundeinfac<, ganz schlicht sind seine Bild-
nisse. Man meint, man lebe in den Mensc<hen drin und spüre
das unnennbare Geheimnis ihrer innersten Seele. Wie kann
Holbein die Lippen geben! I< habe es bei keinem Künstler
so gesehen, und wäre es Tizian, Veronese, Rubens, Rembrandt,
van Dyk. Mit einer ganz undefinierbaren Leichtigkeit, mit
einem Zug des Pinsels zeihnet er den Mund, daß man meint,
der Mann wolle jeht anfangen zu reden. Diese Lippen sind
zum Sprechen wahr. Man fühlt: ein jo gegebenes Porträt ist
wie der natürliche Baustein für das historische Gemälde. Diese
schlihte Einfachheit und ruhige Gegenständlichkeit dürfen wir
auch shon bewundern in der Malerei des 15. Jahrhunderts.
Ihre grundeinfachen, schlichten Charaktere stehen da, wie wenn
sie in Erz verewigt wären.
Aber stet3s werden wir finden, daß in wahrer Kunst das
Individuelle mit dem Gattungsmäßigen re<t wohl überein-
stimmt. Es führt dies nun zu einem Punkt, den wir im
weiteren Verlauf werden no<hmals aufnehmen müssen. Hier
nur so viel: Es unterscheiden sich zweierlei Stile: der so-
genannte idealistisc<e und der jogenannte realistis<e oder
<harakteristishe Stil. Der idealistische Stil gibt mehr nur
Typen, er hat, wenn ich so jagen „darf, weniger Salz der
Eigenheit. Der realistische Stil greift tiefer hinein in das
wirkliche Leben und gibt mehr Jndividualitäten. Die Skulptur
ist ihrem ganzen Wesen nach auf den Jdealstil gewiesen, die
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