185. Erster: Teil. 89.
Gebiet ist ja ganz einfach der: hier kommt alles darauf an,
wie es sich darstellt, und dort kommt alles darauf an, daß etwas
gej<ehe. Eine Lebensrettung z. B. ist eine sittliche That, und
der Künstler kann sie gar nicht brauchen, wenn dabei nicht irgend
eine ästhetisc< wirksame Gruppe von Bewegungen und Stellungen
vorkommt.
Wir kommen damit auf ein Thema zurü&, das uns, in
anderem Zusammenhang, bereits beschäftigt hat; und ich wieder-
hole: Die Moral wird sehr fehl gehen, wenn sie, in Ueber-
einstimmung mit asfetischer Religion, die Sinnlichkeit für etwas
an sich Schlechtes hält und die menjc<lihen Triebe, die un-
mittelbaren Naturgefühle, verdammt. Auf diesem Boden hat
sich stets nur eine ungesunde Moral aufgebaut. Aber, wie
gejagt, nun hat es die Geschichte, die Folge der menschlichen
Leidens<haften, der Komplex der Verhältnisse, eine unendliche
Summe von Erfahrungen mit sich gebracht, daß die Triebe
einer Erziehung zu unterwerfen sind, weil sie sonst, obwohl ur-
sprünglich gut, durch Maßlosigkeit zu unserem Verderben aus-
sjc<lagen ). Es ist der Standpunkt der Pflicht, welche sagt:
du jollst deinem Naturtrieb mißtrauen und ihn zügeln. So
hat die Menschheit über ihrem Naturleben, oberhalb der Welt
ihrer sinnlichen Kräfte, ein höheres Stockwerk aufgerichtet: die
Ehe, die Familie, die sittlihe und bürgerliche Ordnung, den
Organismus des Staates. Mit dieser Obergewalt gerät die
Sinnlichkeit, die liebe Natur gar leicht in Widerstreit. Die
Geschlechtsliebe ist an sich nichts Schlimmes, sie kann aber mit
den sittlihen Gesehen, mit der bürgerlihen Ordnung in furcht-
bare Konflikte kommen; und diese Möglichkeit wird auf dem
Standpunkte ethischer Strenge stets befür<tet. Der Zweck der
Moral ist aber, auf einer Höhe anzukommen, wo die Sinnlich-
keit so erzogen ist, daß sie diesen Pflichten von selbst sich fügt,
auf einer Höhe, wo das Gute zur Neigung wird, Sittengeseß
und natürliche Lust übereinstimmen. Das ist die Tugend.
So viel in aller Kürze. Jett wieder zum Schönen! Wir
!) Vgl. oben S. 40.
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