Da3 einfach Schöne. Die Anmut. 193
denn man kann schön sein, ohne Anmut zu besigen. Eine Gestalt
fann in ihrem Wuchs, in ihrem Profil sehr wohl geschaffen
sein, ohne den Charakter des Anziehenden zu haben. Der
Oesterreicher hat ein gutes Wort für eine weiblihe Schönheit
solcher Art; er sagt: das ist ein Bild „ohne Gnaden“, also
ein Madonnenbild, das kein Wunder thut, keinen Trost ge-
währt. Die Sc<önheit liegt mehr in den festen Formen, wie
sie an der menschlihen Gestalt vom Knodhengerüste gegeben
sind, die Anmut mehr in den unwillkürlihen Bewegungen, welche
die willkürlichen begleiten. Willkürlich ist die Bewegung des
Gehens, unwillkürlich die damit verbundene Grazie, jene gewisse
Musik des Wandelns; willkürlich die Bewegung der Sprach-
werkzeuge, wenn man spricht, unwillkürlich das begleitende
Mienenspiel und der Klang der Stimme. Der eine wird schroff
greifen, der andere in sanstem Bogen. Raphaels Frauen- und
Engelögestalten haben in ihren Bewegungen einen Reiz, der U1n-
definierbar und unnachahmlid ist, der ihm allein gehört. Sciller
sagt nun aber: das anmutige Spiel solher Bewegungen muß
der Ausdrus einer schönen Seele sein; und da nimmt er es
etwas zu speziell moralisch. Er beschränkt die Anmut überhaupt
zu sehr auf die menschliche Persönlichkeit. Es ist gewiß wahr:
die Anmut von Bewegungen, worin sich eine edle, wohlwollend
gestimmte Seele bekundet, ist die höchste, aber es gibt gewiß
auch eine Anmut, die solche bestimmt moralische Eigenschaften nicht
hat. Die Art, wie man geht und die Arme bewegt, wie man
springt und tanzt, ist niht notwendig bestimmt von der Ge-
sinnung. Und es gibt auß außermensc<hlihe Erjcheinungen,
denen wir mit Recht Anmut zuschreiben. Zum Beispiel ein
plaudernder Bach, ein lachender Morgen, eine Gruppe spielen-
der junger Tiere. Der Begriff muß also weiter gefaßt werden.
Wir denken dabei an harmlose Dinge, an die relative Existenz
einer Welt ohne Kampf, an das kontradiktorisc<he Gegenteil des
Erhabenen. Reine Schönheit und störungslose Anmut finden
wir nur in der Heiterkeit idyllis<en Daseins, wo uns die Wolken
nicht sehr bange machen, im Jdealgebiet der Venus, der Genien
und Amoretten, und dieses ist natürlih das Beliebteste. Da
Vischer, Da3 Schöne und die Kunst.
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