Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

204 Erster Teil. 8 11. 
Oder die Menschenwelt. Ein liebliches Angesicht entstellen 
plößlich die Po>en. Ade! -- Das gilt auch vom Thun und 
Gebaren. Der Mensc< soll freilich als bewußtes Wesen dafür 
sorgen, daß er in seiner Erscheinung die Menschenwürde vor- 
stelle. Er soll z. B. nicht gehen, wie es ihn das Kindsmädhen 
gelehrt hat. Aber wenn Menschen etwas Bedeutendes thun, 
was für den Zuschauer ein ästhetisches Bild gibt, so sorgen sie 
doch nicht dafür, wie sie im Augenbli> aussehen; das wäre ja 
affektiert. Und weil sie nicht daran denken, wie sie aussehen, 
können sie diese ästhetisc<; wirksame Stellung auch im nächsten 
Augenbli> verlassen. Zum Beispiel Soldaten in einer Schlacht: 
sie wollen kämpfen, siegen, nicht ein Bild darstellen. 
Nun werden Sie sagen: die Werke der Kunst sind ja auch 
vergänglich, und am allermeisten die, welche in einem räumlichen 
Gebilde gegeben sind. Aber da ist doch ein Unterschied. Be- 
denken Sie nur 3. B., wie kurz die Blütezeit der menschlichen 
Gestalt ist. Wenn sie die Zeit der Reife erreicht hat, dauert sie 
noh einige Jahre, und dann basta. Was meinen Sie zur Venus 
von Melos? Die Frau, die Modell dafür war, ist mehr als 
zweitaujend Jahre tot, aber die Schönheit dieses Bildwerks blüht 
no<h heute und kann uns noch mehrere tausend Jahre entzücken. 
Und. die Gestalten Homer3: Achilles, Agamemnon und Helena! 
Wenn sie existierten, so war es doch nur auf die Spanne von 
wenigen Jahrzehnten, aber sie werden in der Phantasie der 
Menschheit leben, so lang unser Planet rollt. 
Das Naturschöne ist auch, prekär gesprochen , viel seltener 
als man meint. Es sind Ausnahmen, wo wir -- einer Natur- 
erscheinung gegenüber -- wirklich sagen können: das ist schön; 
und nur ganz selten fommt es vor, daß ein Wesen sich normal 
entwickelt, rein den Bedingungen gemäß, die sein Grundbild 
mit sich bringt. Selbst die italienischen Meister und selbst die 
Griechen klagten über die Seltenheit der Schönheit. Als Raphael 
seine Galathea gemalt hatte, schrieb ihm der Graf Baldassare 
Castiglione, woher er das doch nur auc< habe, ein so sc<hönes 
Weib zu malen, und er antwortete: „da eine Teuerung an 
jhönen Frauen ist, bediene ich mich einer gewissen Jdee, die
	        
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