ZE Erster Teil. 811.
lebendige Jdealkraft läßt in vollem Glanze aufleuchten, was
da und dort nur ungewiß dämmert; sie schaut in das Urbild der
Dinge hinein, und sie bewirkt, daß es erscheint.
Das Wort Phantasie kommt vom griechischen pavräbe,
d. h. ans Licht bringen, zeigen; und dieses ist abgeleitet von
paleodat, d. h. erscheinen. Es ist also die Eigenschaft, vermöge
der mir etwas erscheint. Wir wissen sehr wohl, daß zur
Phantasie noh tiefes Gemüt, nüchtern verständige, wie hoch-
ideale Kombinationen gehören, aber die Wissenschaft braucht ein
solches einfaches, Alles zusammenfassendes Wort. So hat die
Rechtswissensc<haft das Wort: Recht ). So haben wir für den
ästhetis<en Gegenstand das Wort schön (und das heißt ja
eigentli< soviel wie anschaulich, wohlbeträchtli<h) und so für
die ästhetisc<e Geisteskraft das Wort Phantasie. Wenn sich die
Seele auf das Schöne wirft, so münden ihre sämtlichen Kräfte
in die Phantasie hinein. Die alte Psychologie behandelt die
verschiedenen Vermögen der Seele, Fühlen, Wollen, Denken,
jo, als ob jedes für sich existierte. Neuerdings ist diese Theorie
umgestoßen, denn die Seele ist kein Sa>, in dem diese Vermögen
wie Pakete ste>fen. Sie bewegt sih mit ihren sämtlihen Fähig-
keiten in dieser oder in jener Modifikation, aber es ist immer
die ganze Seele. So gibt Schiller in einem Brief an Goethe
jene bereits citierte schöne Deduktion von Goethes Dichtergeist :
„alle Ihre denkenden und fühlenden Kräfte haben auf die Ein-
bildungskraft kompromittiert.“ ?) Das heißt, wie gesagt: alle
Ihre übrigen Seelenkräfte haben einen Vertrag abgeschlossen,
sich in der Phantasie zu vereinen und als Phantasie zu wirken.
Und so soll auch von uns „Phantasie“ genommen werden: als
Inbegriff aller Kräfte, die beim Scaffen eines Bildes mit-
wirken.
Was hätte nun eine Lehre von der Phantasie alles zu
enthalten ?
hre Wesen müßte genauer darauf hin betrachtet werden,
wie es sich aufbaut auf der Grundlage der Ans<auung.
H Vgl. oben S- 26.
2) Vgl. oben S. 150, 151.
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