Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

2. Erster Teil. 8 12. 
Sagen von Helden, die nicht sterben, von Harald, Barbarossa! 
Die Volksseele will nicht glauben, daß ein bedeutender Mann 
dahin sei. Das hat sich ja wiederholt beim Tode Napoleons 1. 
Man nennt nun wohl mit Recht sol<he Vorstellungen gegen- 
über dem, was der Künstler daraus macht, no< unverarbeiteten 
Rohstoff, aber dieser Rohstoff ist do<h sehr vorteilhaft. Für das 
Drama gibt es kaum etwas Besseres. Aus solchen uralten 
Sagen haben die griechischen Dichter geschöpft und Shakespeare 
in seinem Lear, seinem Hamlet. Es ist Stoff, den die Volks- 
phantasie shon geknetet hat. So hat Goethe den höchst glü>- 
lichen und genialen Gedanken gehabt, die Ansammlung uralter 
Zaubersagen im Doktor Faust zu behandeln und ihr neuen, 
tieferen Gehalt unterzulegen. =- 
Merkwürdig ist nun die Art, wie die Phantasie des Volkes 
j<afft. Niemand weiß, von wem ihre Vorstellungen herrühren. 
Das mythische und sagenhafte Gebilde ist vergleichbar einem 
Ameisen- oder Bienenwerk. Es wächst nur nach und nach, in 
höchst langsamem Fortschritt, dur< geheimnisvolle Beiträge. In 
einer gemeins<haftlihen Thätigkeit unerforshliher Art, rastlos 
sammelnd, einander zutragend, webend und bauend, haben die 
Völker endlich ganze Traumgebäude von Dichtungen entworfen, 
die dann nachher in Künstler- und Dichterhände gelangten. So 
entstanden die Helden- und Göttersagen. 
Aljo auch das Volk dichtet =- im unbestimmteren Sinne 
des Worts -- und, wenn wir eingehen wollten, wäre hinzuzu- 
seen: auch der einzelne, so oft er eine Anekdote erfindet = 
und so oft er lügt. Das Lügen ist freilich eine schlechte Art von 
Dichtung, aber Phantasie ist ja dabei. =- Allein so, als all- 
gemeine Menschengabe, erscheint die Phantasie nicht in der Be- 
stimmtheit ihres Wesens. Wir können so ihre Züge nicht klar 
erkennen, sondern erst da, wo sie als ausnehmende Gabe hervor- 
tritt, als Talent und Genie. 
Wer besonders befähigt ist, das Schöne zu schaffen , steht 
im Verhältnis der Schuld zu allen übrigen, die es nicht sind. 
In ihm wirkt gesammelt, was in den anderen so ausgebreitet 
ist, daß an den einzelnen wenig kommt. Er ist der ihrige. Er 
„I()
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.