Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Unzulänglichfeit der Erinnerung. 941 
Also gut, die Phantasie hat ein vortreffliches Gedächt- 
nis. Wir erinnern uns der Gestalt jedes vertrauten Menschen. 
Aber wenn man nun frägt: „Wie verlaufen seine Augenbrauen, 
Nasenflügel? Wie ist seine Stirne geformt, wie sein Schädel 
gebildet, sein Kinn, sein Mund? Welche Form haben seine 
Ohren?“ Wie steht es dann? Wir werden es häufig nicht 
wissen. Als der Philosoph Zeller mit einem Nekrolog Schweglers, 
unseres beiderseitigen Freundes, beschäftigt war, schrieb er mir 
nah Zürich, er erinnere sich nicht mehr, was für Augen der 
Verstorbene gehabt habe, -- und ih wußte es auch nicht mehr, 
obgleich ich ihn eine Zeitlang täglich gesehen hatte. So wird es 
manchem in manchen Fällen gehen. Das Ansc<hauungsbild, das 
ich mit meinen Augen aufgefaßt und mir geistig angeeignet 
habe, das ich mir auch in Abwesenheit des Gegenstandes innerlich 
hervorrufen kann, dieses vergeistigte Bild ist eben nur geistig 
und deshalb ohne nähere Bestimmtheit. Es zeichnet sich aus 
dur< den innigen Hau<, durc<h die Jdealität des seelischen 
Lebens: ja es scheint oft ganz deutlich zu sein, ist es aber in 
der That nicht. 
Der Künstler nun faßt von vornherein, auch beim wirklichen 
Sehen der äußeren Erfahrung, schärfer auf, er schaut immer 
mit offenen, hellen Augen; und er merkt sich genauer, wie die 
Dinge sind. 
Aber auch ihm genügt das nicht, wie er auf jede Weise 
erfährt. Ein Porträtmaler , und wär' er der geschiteste, wird 
nicht einmal die Scleife an einem Halstuch gern aus dem 
bloßen Kopfe malen; er muß es no< einmal ansehen, er 
will nicht willkürlich verfahren. Ein Landshaft5smaler, der sich 
auf die verschiedenen Arten des Baumsc<lags, auf die Sc<hi<ht- 
und Bruchformen des Felsgesteins ausgezeichnet versteht, muß 
do< immer wieder die einläßlihsten Studien machen; und wenn 
er ein Bild malt, so muß er wieder sorgfältig nachprüfen, wie 
das Korn dieser Felswand beschaffen, wie diese Bäume und 
Büsche verästelt und belaubt, wie diese Farben getönt sind. 
Wer Naturstudien versäumt und Modelle selten oder gar nicht 
zu Hilfe nimmt, kommt zu Schaden als Künstler. Die Natur 
Vis<er. Das Schöne und die Kunst 16
	        
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