Die Streitfrage über Naturnachahmung. Aristoteles. 247
eines Naturvorbildes. Er dachte dabei gewiß nicht an ein Wieder-
geben mit Haut und Haar, wollte damit nichts aussagen über
den Grad, in welhem man alles im Vorbilde der Natur Ent-
haltene nachahmen soll. Die Frage, was im Nachahmen am
Gegenstand erhöht werde, was nicht, bleibt ganz ausgeschlossen.
In seiner Physik ist zu lesen: „Die Kunst ahmt teils die Natur
na<, teils vollendet sie, was die Natur nicht zu vollbringen
vermag.“ Dieses „teils, teils“ ist etwas naiv. Die Kunst
ahmt nach und ahmt nicht nah, sie gibt etwas, was die Natur
nicht zu leisten vermag. Dazu nehme man sein bekanntes
Wort: „die Poesie ist philosophischer und gewichtiger als die
Geschichte.“ Es gehört hierher, denn auch die Stoffwelt der
Geschichtswissens<haft ist Natur, und Aristoteles stellt den Dichter
höher als den Historiker, weil ex aus der Geschichte den inneren
Kern heraushebt. In seiner Poetik jagt Aristoteles einmal:
„die guten Porträtmaler machen ihre darzustellenden Leute,
indem sie sie ähnlih machen, schöner.“ Er meint damit nicht,
sie s<meicheln. Irgendwie verschönern muß der Künstler
doc<h. Dort steht auc<: „Sophokles stellt die Menschen dar,
wie sie sein sollen , Euripides aber wie sie sind.“ Wenn
er das von Sophokles sagt, so wird er nicht meinen, Poesie
sei bloße Nachahmung. Er weiß vielmehr, daß man nach-
ahmen kann, was sein soll. =- Eine besonders belehrende
Stelle in seiner Poetik 7) ist aber folgende: „Der Dichter selbst
soll so wenig als möglich reden; sofern er dies thut, ahmt er
ja nicht eigentlich nac<. Homer ist der einzige, der recht weiß,
was er zu thun hat. Die anderen treten durch ihr ganzes Kunst-
werk hindurch selbstredend auf; sie ahmen nur weniges nach und
selten; er aber, Homer, führt nach einem kurzen Anrufe an die
Muse sogleich einen Mann oder eine Frau ein oder etwas ande-
res, und nichts ohne Charaktergepräge.“ =- Lesen Sie dagegen
in modernen Romanen, so finden Sie, auch im besten, ganze
Blätter lang einen Charakter oder eine Stimmung analysiert.
Aber das ist ja nicht dichterisc<, ihr Herren Romansc<riftsteller !
1) Kapitel 24.