Schelling. Dürer. Goethe. Photographische Wahrheit. 9351
Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine mens<li< voll-
endete zurück!“ Wie ec<t Goethe's<: „dankbar gegen die Natur,
die auch ihn hervorbrachte!“ Aus demselben Schoße, woraus die
Natur all ihre Gestalten geschaffen hat, stammt ja auch der
Künstlergeist, und nur daher hat er die Ahnung, was die Natur
gewollt hat. Also sind wir nicht wohlweis gegen die Natur,
wenn wir sagen: in gewissem Sinn hat sie der Künstler zu
verbessern, sondern die Meinung ist ja nur: die Kunst hebt die
reinen, ursprünglichen Absichten der Natur aus dem Nebel, der
so häufig auf ihnen liegt. Sie gibt ein Nachbild des Wesent-
lihen und abstrahiert vom Unwesentlichen.
„Naturnachahmung oder nicht?“ ist also eine Vexierfrage.
Wir halten uns weder zu dieser noh zu jener Nartei. Die
Prinzipienreiter des Naturalismus und die Prinzipienreiter des
Idealisömus haben beide rec<ht und beide unrecht; und eben
darum sind ihre Gegensätze so scharf gegeneinander gespannt.
Unsere Antwort bleibt Ja und Nein. Die Phantasie ist das
Korrektiv der Natur, wo diese getrübt, und die Natur das Kor-
rektiv der Phantasie, wo diese willkürlich ist.
Ein Bildhauer sagte mir einmal: „mein Prinzip ist die
Wahrheit.“ I< meinte: Ja, ganz gut! Aber was ist Wahr-
heit? Freilich, die Frage in anderem Sinne gemeint, als in
dem von Pilatus. Man prüfe daraufhin 3. B. eine Porträt-
büste. Was ist die Wahrheit dieses Gesichts? Ist es das wahre
Gesicht dieses Mannes, wie es in Wirklichkeit aussieht? Wird
man photographiert, so befindet man sich in einem Zustande
der Spannung, und diese bekundet sich im Antlit. Man wartet
bis der Moment kommt, wo man geköpft wird. Nun fixiert
der Mechanismus des Apparats dieses Gesicht; er kann für<hter-
lich genau treffen, eine entseßlich scharfe Wahrheit geben. Aber
diese photographische Wahrheit ist eine vollendete Unwahrheit,
denn das Original hat in diesem Moment eben doch nicht sein
wahres Gesicht gehabt. Der Künstler dagegen, der wahre
Künstler kann und darf nicht ganz naturtreu sein. Warum?
Eben weil er wahr und naturtreu sein muß. Wahrhaft ge-
troffen ist bloß das idealisierte Porträt, vorausgeseht, daß es