X Zweiter Teil. 8 4.
in der Bewegung des Tones selbst liegt? Sie offenbart mit
Hülfe des Wortes dem inneren Auge Bilder von Gegenständen
der räumlihen Welt. Sie unterscheidet sih von der Musik
wesentlich dadurc<, daß sie im Hörer oder Leser Vorstellungen
von Gestalten, Scenen, Landschaften we>t, und die schöne Form
ihrer Sprache soll nur mitwirken im Dienste der hier herrsc<hen-
den Schönheit. Diese aber sißt hier in den geistigen An-
shauungen der Phantasie. So ist dem inneren Leben die
Raumwelt erschlossen mit der Mannigfaltigkeit ihrer Erschei-
nungen. Dies kann die Musik nicht. Deshalb tritt die Poesie
aus ihrer Nachbarschaft heraus und bildet eine Gattung für sich.
I< will Ihnen ein Beispiel geben aus der Lyrik, die in
ihrem ganzen Wesen so musikverwandt und doh so tief s<hauend
ist, ein durc< und dur< lyrisches Gedicht, Mörikes Lied: „Das
verlassene Mägdlein.“ Nehmen Sie nur den Anfang:
„Früh, wann die Hähne krähn,
ECh' die Sternlein verschwinden,
Muß ich am Herde stehn,
Muß Feuer zünden.“
Da haben Sie do< ein Bild. Sie sehen eine Küche, einen
Herd, ein Mädchen dabei. -
Oder denken Sie an „Schäfers Klagelied“ von Goethe:
„Da droben auf jenem Berge,
Da steh' ich tausendmal,
An meinen Stabe gebogen,
Und schaue hinab in das Thal.“
Da steht vor Ihrem inneren Aug' ein melancholischer Hirte.
Wir haben ja gesehen: alle Sinnesverrichtungen kommen
doppelt vor, einmal wirklich, wenn der Gegenstand zugegen ist,
dann in der Phantasie als Erinnerungsbild. Aus irgend einem
Anlaß taucht es plößlich in uns auf, aber wir können es auch
mit unserem Willen produzieren. Also es gibt ein Sehen,
Tasten, Hören der ins Innere zurükgeschlagenen Sinne, und
für diese innere camera obscura arbeitet die Poesie. Sie
bringt Reihenfolgen von geistig anges<hauten Bildern, die aus
ganzen Gruppen von Gegenständen, Gebäuden, Menschen u. |. w.
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