Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

En Einleitung. 
und ihm einräumen: ja, du hast eigentlich recht, ein Geset 
gibt es nicht: das ist ganz dem Zufall der Individualität an- 
heimgegeben? Nein, wir. werden ihn stehen lassen und denken: 
du bist ein Esel, denn wir halten die Richtigkeit unserer Ansicht 
hierüber für so gewiß, als zweimal zwei gleich vier ist. Es 
gibt genug verstümmelte Menschen; und sie bestimmen hier 
nicht. Chinesen und Jrokesen werden uns darin so wenig irre 
machen als Räuber in unseren Begriffen von Necht und Unrecht. 
Es gibt do< ein allgemeines ästhetisches Urteil. 
Das Schöne ist unmittelbar und absolut einleuchtend. Kant 
sagt: „Schön ist, was ohne begriffmäßiges Denken allgemein und 
notivendig gefällt." Es" ist das übersinnlihe Substrat in ver 
Menschennatur, das vom Schönen erfaßt wird. Der Mensc< soll 
werden, was er ist. Er soll alle Eigenschaften in sich entwieln 
und jene volle Uebereinstimmung von Geist und Sinnlichkeit 
erreichen, von der die Rede war. Wir sind Krüppel, wenn wir 
nicht unsere Sinnlichkeit erziehen. Vom Bande des Geistes ge- 
trennt, verwildert sie; und ohne sie verdorrt der Geist. Wer 
sich mit dem Schönen gar nicht vertraut macht, ist ein Barbar. 
Des Menjc<hen Natur ist Bildung, Kultur, wodurc< die ur- 
jprüngli< in. ihm liegende reine Menschlichkeit sich entfaltet. 
In der Kultur wird 'nur fertig, was in der Natur liegt. 'Be- 
jäße einer die Sinnesanlage für das Schöne überhaupt gar 
nicht, so wäre er nur ein Bruchstü> von einem Menschen. 
Das Volk freilich hat bei seiner groben Arbeit keine Zeit, 
diese Uebereinstimmung von Sinnlichkeit und Geist zu ent- 
wikeln. Seine Innerlichkeit ist nicht so ausgebildet, daß aus 
Farben, Gestalten, Tönen all das Tiefe zu ihm spricht, was 
der Künstler in sie gelegt hat. Nicht daß es dem Volke ganz 
erspart wäre, aber vor großen Werken wird es mehr oder weniger 
stumpf dastehen. . 
Das ursprüngli< Reinmens<lihe kann in einem Volke 
dur< äußere Ungunst von leichter Entwielung abgehalten, es 
kann aber auch verbildet und durch falsche Kultur verdreht werden. 
Man denke 3. B. an China, wo die verstümmelten Frauenfüße 
für schön gelten. Oder bli>en wir nach unserer eignen Ver- 
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