Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Das Schöne nicht bloß quantitativ. 1 
In der Baukunst wird gemessen. Da handelt es sich um 
reguläre Linien, Flächen, Körper, deren Größenverhältnisse mit 
Reißschiene, Winkelmaß und Zirkel bestimmt werden. 
Auch greifen die mathematischen Gesete ein auf die Plastik. 
2 Einer Statue liegen die Maßverhältnisse des menschlichen Körpers, 
4 Symmetrie und Proportion, zu Grund. 
0 In der Musik ergibt sih das Shöne aus Tonverhält- 
? nissen. Hier ist alles meßbar; es scheint, man habe es hier 
mit einer Art von Mathematik zu thun. Konsonanzen sind 
. durch Zahlen darzustellen. Dissonanzen sind mathematische Miß- 
verhältnisse. Das ganze System der Musik kann auf Zahlen 
gebracht werden, und cs ist kein geringer Geist, der gesagt hat: 
„die Musik ist eine Wissenschaft der re<hnenden Seele, die nicht 
weiß, daß sie rechnet.“ 
Die Metrik in der Poesie wollen wir auch noh anführen, 
denn daß ein Vers so oder so wirkt, hängt sehr innig mit dem 
Versmaß zusammen; und dieses ist nichts als eine geregelte 
Folge entweder von Längen und Kürzen, oder von starken und 
, shwachen Silben. Eigentlich quantitativ ist antike Metrik, welche 
sih aus langen und kurzen Füßen zusammenseßt. Zm Ger- 
manischen ist es anders; hier gilt der Accent: die Zahl der 
gehobenen, stark betonten und die Zahl der gesenkten, leicht be- 
tonten Silben. Also hier Zählung von Silbenaccenten. 
Versuchen wir aber der Gesamtanordnung einer plastischen 
Gruppe , eines Gemäldes, eines poetischen Werks mit exakten 
Maßstäben beizukommen, so zeigt sich, daß die paar Geseße, die 
man hierüber aufstellt, reht arm sind. Das will ja nicht viel 
heißen, und man sieht bald, daß die Komposition unmeßbar 
ist. Da tritt der Geist ein mit dem unbestimmbaren Spiele 
. seines Harmoniegefühls. 
Wir werden also sagen: die Mathematik greift weit hinein 
in die Welt der Kunst, sie wird hier aber sogleih umrauscht 
von frei bewegten Wogen. Sie greift nicht dur<h. Je reiner 
eine Kunst, um so stärker waltet in ihr Freiheit, jo daß das 
Mathematische zu einem bloßen Gerüste wird, überwallt und 
umspielt von den Formen des unberechenbaren Lebens. 
un
	        
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