214 I. Kraft und Stoff
stets zueinander „komplementär‘® [Bohr!7)1] in der oben angeführten
Weise.
Eine Frage bleibt uns noch zu beantworten: Welchen Einfluß wird
die neue Vorstellung auf unsere Gesamtweltanschauung ausüben ?
Schon in der obenerwähnten Rektoratsrede von Nernst findet sich
der Ausspruch, daß „eine gewisse Verwandtschaft der neuen Auffassung
vom Kausalgesetz mit theologischen Gedankengängen nicht zu ver-
kennen sei‘. Andererseits hat aber Born mit Recht darauf aufmerksam
gemacht 1%), daß es völlig verkehrt wäre, nunmehr den Glauben an
das Wunder wieder in unsere Naturbetrachtung einzuführen. Wer
etwa sich darauf verlassen wollte, daß der obenerwähnte Perrinsche
Ziegelstein ihm von selber in die Hand flöge oder daß durch eine ent-
sprechende ungleiche Verteilung der Molekulargeschwindigkeiten zu
beiden Seiten eines durch die Luft herabfallenden Steines dieser vom
Haupte eines Passanten abgelenkt werden würde, müßte irrsinnig sein,
denn Unwahrscheinlichkeiten von dem Ausmaße, wie sie hierbei vor-
liegen würden, sind praktisch mit Unmöglichkeiten völlig identisch.
Praktisch bleibt für alle makroskopischen Verhältnisse die so gut wie
streng deterministische Vorausberechenbarkeit der Ereignisse bestehen,
und so wird z. B. auch der Astronom nach wie vor seine Sonnenfinster-
nisse usw. auf die Bruchteile von Sekunden berechnen und wird wie
bisher mit seinen Berechnungen recht behalten. In diesem Sinne
bleibt es also wahr, was Goethe in dem bekannten Verse von den
„ewigen, ehernen großen Gesetzen‘ ausgesprochen hat. Und doch
haben diese Gesetze ein wesentlich anderes Gesicht bekommen, sie
verlieren sozusagen ihre Starrheit und damit das Kalte und Tote,
das Mechanische und anscheinend Sinnlose, an dem sich so viele gläubige
und lebensvoll fühlende Gemüter gestoßen haben. Der abstoßende
Gedanke1!72), daß die Welt als Ganzes ein riesengroßes Uhrwerk sei,
das sein Spiel mechanisch herunterleiert, ein Gedanke, der nun einmal
eine unvermeidbare Konsequenz des mechanistischen Weltbildes ist,
fällt jetzt dahin. Dieser Gedanke hat sich bekanntlich theologisch in
dem sog. Aufklärungsdeismus ausgewirkt, wonach Gott vor sehr langer
Zeit einmal den „Anfangszustand““ der Welt gesetzt haben sollte, diese
dann aber nach den ihr einmal aufgeprägten Gesetzen abschnurrt,
ohne daß er sich weiter darum zu kümmern brauchte. Gegen solche
deistischen Vorstellungen, die nur halbverhüllter Atheismus sind, hat
sich das religiöse Denken stets gesträubt und mit Recht immer wieder
verlangt, daß, wenn überhaupt eine Gottesidee berechtigt sei, dann
diese nur die theistische sein dürfe, d.h. daß dann Gott als dauernd
wirksam, die Schöpfung also nicht als einmaliger Akt, sondern als
creatio continua, als ununterbrochenes Wirken aufzufassen sel.
Dieser Forderung gibt die neue Physik nun einen überwältigend klaren