230 I. Kraft und Stoff
hohen Grade von Genauigkeit verbessern lassen, während die heutige 4
Physik im Gegenteil davon überzeugt sei, daß diesem Annäherungs- “
prozeß selbst eine endliche untere Grenze durch die Natur der materiel-
len Welt von vornherein gesteckt ist. Es bedarf nur einer kleinen Be- u
sinnung, um einzusehen, daß das tatsächlich etwas ganz Neues und >
Unerhörtes bedeutet, was eben in der alten Physik in keiner Weise \
vorgesehen war, obwohl auch in dieser niemand die praktische Un-
genauigkeit der Meßmethoden jemals bezweifelt hat. Natürlich ist
aber auch das zuzugeben, daß — weil es nun einmal die Heisenberg-
Relation gibt — die bereits in der theoretischen Physik allgemein be-
kannten Methoden der Fehlerrechnung, die (allesamt auf Wahrschein-
lichkeitstheorie hinauslaufen) nunmehr auf die fraglichen Heisenberg- ©
Schwankungen, wie wir sie einmal kurz nennen wollen, übertragbar °
sind. Hierzu hat wiederum Reichenbach fundamental wichtige Vor- }
arbeiten geleistet, indem er nicht nur diese Dinge in ganz präzise Formu- )
lierungen gebracht, sondern sogar einen eigenen neuen Kalkül ausge-
arbeitet hat 1%), der der neuen „akausalen‘‘ Physik ebenso auf den Leib ;
geschnitten ist wie die alten Methoden der gewöhnlichen Infinitesimal- =
rechnung der strengen ‚dynamischen‘ Gesetzlichkeit alten Stils.
Wir brauchen aber auf diese nur dem Mathematiker verständlichen
Formulierungen hier nicht näher einzugehen. Es sollte nur darauf
hingewiesen werden, daß es eine grobe Verwechslung ganz heterogener
Dinge bedeutet, wenn man die übliche ‚„‚Fehler‘“‘-Theorie ohne weiteres
mit der Heisenberg- Theorie zusammenwirft. Beide Arten von „Schwan-
kungen“ liegen sozusagen in ganz verschiedenen Wirklichkeitsbereichen,
die einen beruhen auf der Unvollkommenheit unserer sinnlichen Hilfs-
mittel, die anderen eben nicht auf dieser, sondern auf jener an sich
bestehenden Eigenart der Wirklichkeit, von der wir oben näher ge-
sprochen haben. Es war nicht überflüssig, den Leser hierauf besonders
aufmerksam zu machen.
Wir müssen hiermit nun aber diesen Gegenstand verlassen und wollen
nur noch ein paar Worte über das bereits oben erwähnte uralte Problem
hinzufügen, das in Wahrheit auch hinter dieser ganzen Krörterung
steht, das sog. Universalienproblem des Mittelalters. Damals drehte
sich der Streit um die Frage, ob den Begriffen als solchen, dies Wort im
Sinne der klassisch griechischen Philosophie genommen, Realität zu-
käme oder ob sie bloße Namen („flatus vocis‘) seien. Die Vertreter der
letzteren Ansicht nannte man damals Nominalisten, die Vertreter der
aus Plato übernommenen Lehre von der Realität der Begriffe Realisten.
Einen gewissen Ausgleich der Gegensätze bildete die Lehre Abä-
lards, wonach die ‚„‚Universalien‘“ (Allgemeinbegriffe) für die mensch-
liche Erkenntnis post rem (im Sinne des Nominalismus), in der Natur
in re und für Gott ante rem (im Sinne Platos) seien. Wir Heutigen