Full text: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften

418 III. Materie und Leben 
Himmel erhoben hatte. Das gilt von Staatsformen so gut wie von Men- „Da 
schen und von wissenschaftlichen "Theorien. we. 
Hiermit haben wir bereits ein kleines Stückchen der Geschichte unseres Pro- 
blems erwähnt, die allerletzte Phase desselben. Es sind auch ein paar Worte über ) 
die Vorgeschichte nötig, wenn wir die heutige Sachlage richtig verstehen wollen*“®). selb 
Der erste, der mit Erfolg versucht hat, in die anscheinend unübersehbare Fülle der Bol. 
Lebensformen Ordnung und System zu bringen, war bekanntlich der große schwe- Ss ; 
dische Biologe Linne. Seine genauen Beobachtungen schienen zunächst durchaus tisc] 
die alltägliche Erfahrung zu bestätigen, daß die Kinder stets den Eltern — abge- fern 
sehen von unwesentlichen kleinen Unterschieden — gleichen, und so stellte Linne lich 
denn an die Spitze seines Systems den Satz: Tot sunt genera et species, quot 1 
abinitiocreataesunt. (Es gibt so viel Arten und Gattungen wie von Anfang an nich 
erschaffen sind.) Obgleich er später in manchen Pflanzenfamilien (z. B. bei den Ve 
Brombeergewächsen) ein sehr deutliches Ineinanderfließen der Grenzen bemerkte, A 
hielt er grundsätzlich an dem Satz von der Artkonstanz fest, und seine Nachfolger, der . 
für die er bald die Stellung einer Autorität einnahm, folgten ihm auch darin. — so, d 
Einen entscheidenden neuen Impuls bekam das Problem erst durch die im Laufe des H 
18. Jahrhunderts sich allmählich entwickelnde paläontologische Forschung ®*7). In 
Hatte man vordem die fossilen Reste ehemaliger Pflanzen und Tiere für bloße Mus; 
„Naturspiele‘“ gehalten, so erkannte man jetzt allmählich, daß es sich um wirk- Gatt 
liche ehemalige Lebewesen handelte, doch begnügte man sich zumeist mit der GC 
Erklärung, daß diese bei der „Sintflut“ umgekommen und durch sie auch z. B. TU] 
die Muscheln oben auf die Alpen gekommen seien. Ein endgültiger Wandel wurde ökon 
in dieser Frage erst durch Cuvier (1769—1832) geschaffen, der als der eigentliche aber 
Begründer der Paläozoologie angesehen werden muß. Cuvier, der ein für damalige 
Zeiten unerhörtes Geschick in der Identifizierung tierischer Knochen besaß, er- Erd} 
kannte, daß es sich bei den Fossilien zumeist um total andere Wesen als die gegen- bevö 
wärtig lebenden handelt und daß die Erde demgemäß nacheinander von ganz dem 
verschiedenen Floren und Faunen besiedelt gewesen sein muß. Leider verquickte 
er diese grundlegende neue Erkenntnis mit einer unhaltbaren Theorie der Entstehung ganz 
dieser untergegangenen Welten, der sog. Katastrophentheorie, wonach in alles 
mehreren aufeinanderfolgenden Schöpfungsperioden jedesmal eine ganz neue Flora b 
und Fauna geschaffen sein sollte, die jedesmal durch große Erdkatastrophen — GOCH 
Cuvier dachte an vulkanische Ereignisse — radikal vernichtet und dann nach heute 
eingetretener Beruhigung der Erde durch eine neue „Schöpfung“ ersetzt worden hinaı 
wären. Gegen diese Lehre erstand auf geologischem Gebiete alsbald eine heftige . 
Gegnerschaft bei den sog. Neptunisten, welche nicht dem Vulkanismus, sondern Diese 
der langsam, aber stetig wirkenden Tätigkeit des Wassers die Hauptrolle bei der 
Umgestaltung der Erdoberfläche zuweisen wollten (womit sie, wie wir heute 
wissen, Recht behalten haben), und in der Biologie traten gegen Cuvier nunmehr 
die eigentlichen Begründer der Abstammungslehre, Geoffroy St. Hilaire, Zu 
Erasmus Darwin, Oken, Treviranus und vor allem Lamarck auf den Plan. Et 
Es ist bekannt, mit wie großem Anteil Goethe die Entwicklung dieses Kampfes wand 
noch in seinen letzten Lebensjahren verfolgt hat. Wir werden auf das wichtigste durel 
Werk dieser Epoche, die Philosophie zoologique Lamarcks (1809), unten noch b 
zurückzukommen haben. Einstweilen erwies sich die neue Lehre noch zu wenig in DET 
der Erfahrung fundiert, als daß sie innerhalb der Naturwissenschaft selber hätte konse 
durchschlagen können, und in der Philosophie herrschte auf der anderen Seite wenn 
unumschränkt die spekulative Schule Fichtes, Schellings und Hegels, die ä 
erst recht von einer solchen, ihrer Ansicht nach grob materialistischen, historisch PEer10( 
realen Deutung des „Zusammenhangs der Lebensformen‘“ (den sie rein ideell diese 
faßte), nichts wissen wollte*®). Den Umschwung brachte erst das Werk von Charles dank 
Darwin „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ (1859). 
Die weitere Entwicklung ist dann allgemein bekannt und braucht hier nicht erörtert Falle 
zu werden. Der Sieg der Abstammungslehre bedeutete unter diesen Umständen Zwec 
zugleich den Sieg des Darwinismus, d. i. der Selektionslehre. Erst viel später hat b 
man eingesehen, daß das eine mit dem anderen nicht unmittelbar gegeben ist. esta) 
Und wenn die letzten Jahrzehnte eine ziemlich scharfe Kritik des eigentlichen erdge
	        
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