4 III. Materie und Leben
lich ist, wie es bei der Entstehung der Arten wohl zugegangen sein mag.
Wenn heute in dieser Hinsicht eine gewisse Resignation in der wissen-
schaftlichen Biologie eingetreten ist, weil man eingesehen hat, daß wir
noch meilenweit von diesem Ziel entfernt sind und erst noch vieles
andere klären müssen, ehe wir überhaupt mit Erfolg uns an dieses Pro-
blem werden wagen können, so darf uns eine solche momentane Zeit-
strömung nicht irremachen an der Notwendigkeit der Aufgabenstellung
selber. Es ist wahr, daß die heutigen Biologen kaum mehr daran denken,
sich in der Weise Haeckels mit „Stammbäumen‘‘ u. ä. herumzuplagen,
um am Ende doch einsehen zu müssen, daß sie in die leere Luft gebaut
hatten. Man ist sich heute klar bewußt, daß das, was uns das Genie
eines Darwin hinterließ, nicht eine fertige Lösung, sondern eine weite
und große Aufgabe war, an der noch Generationen zu tun haben werden.
Wenn man das früher im ersten Rausch der Freude über das neue
Erkenntnisgebiet oft vergessen hat, so ist damit nur geschehen, was in
allen parallelen Fällen in der Geschichte der Wissenschaften sich wieder
beobachten läßt. Zuerst vage und unbestimmte Vorstellungen, aus
klarer Erkenntnis und allerlei mystischem Halbdunkel wunderbar ge-
mischt. Dann kommt ein Genie, ein Kopernikus, Newton oder
Darwin, und wie mit einem Schlage beginnt aus dem Chaos unkontrol-
lierbarer Meinungen eine Wissenschaft zu werden. Dann aber geht es
unvermeidlich in ein Extrem hinein. Das Genie, der Bahnbrecher wird
zum Führer gewählt, auch da, wo seine Intuitionen nicht mehr anwend-
bar sind. Kine Zeitlang geht es noch gut, mit allerlei Hilfshypothesen
wird das wankende Gebäude gestützt; schließlich aber geht auch das
nicht mehr, und nun setzt eine kritische Reaktion ein, deren Hochflut
dann auch manches, was wohl brauchbar war, mit hinwegzuschwemmen
droht. Dann erst, wenn auch dieser Rückschluß abgeebbt ist, beginnt
das, was wirklich an der genialen Leistung bleibend war, sich als frucht-
bar für immer neue Einsichten zu erweisen, und erst jetzt kann eine nüch-
terne, von allen Kxtremen sich fernhaltende Forschung geradeswegs auf
ihr Ziel losgehen. In der Deszendenztheorie stehen wir jetzt so ziemlich
am Abschluß der kritischen Periode, jedenfalls dürfte wohl das Maximum
derselben überschritten sein. Überall regen sich die Ansätze zu For-
schungen, die weder dogmatischer noch kritischer Tendenz dienen sol-
len, sondern einfach die Frage: Wie ist’s wirklich? im Auge haben.
Von ihnen hängt der weitere Fortschritt ab.
Was hier von der Abstammungstheorie im allgemeinen gesagt wurde,
das gilt in ganz besonderem Maße von dem besonderen Abstammungs-
problem, das im Grunde eigentlich die Ursache davon ist, weshalb sich
an die Deszendenzlehre ein so erbitterter Kampf geknüpft hat, dem
Problem der Abstammung des Menschen. Mit einer gewissen inne-
ren Notwendigkeit sind alle Weltanschauungstendenzen, die in die
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