HL IV. Natur und Mensch
mittel seien, die wir anwenden, um uns einigermaßen zurechtzufinden.
Es steht mit absoluter Sicherheit fest, daß die Natur selbst uns diese
Zweiteilung der organischen Wesen mit ganz derselben Evidenz auf-
drängt wie den Begriff des soeben erwähnten Sternhaufens, und ebenso-
gut wie dieser sind deshalb auch die Begriffe Pflanzenreich und Tier-
reich Beziehungen realer, nicht bloß eingebildeter Einheiten. Wir
haben sie nicht in die Natur hineingelesen, sondern sind ihrerseits ge-
zwungen worden, sie aus ihr herauszulesen. (Vgl. auch oben S. 230{f.).
Aus dem allen ergibt sich die Notwendigkeit, in den Realwissen-
schaften, zum wenigsten den individuellen (s. S. 244), nicht nur in der
aus der Mathematik gewohnten Weise Begriffe zu definieren, sondern
vielfach diese durch ein Verfahren zu gewinnen, das ich als das „typo-
logische‘ bezeichnen möchte. Man muß sozusagen zuerst einmal
mitten in die betreffende Gegenstandsgruppe hineinspringen und an
ihren hervorragendsten, ‚„„typischen‘‘ Vertretern sich klarmachen,
welches die charakteristischen Merkmale dieses Typus im Unterschiede
von einem anderen sind, wie der genannte Astronom, wenn er etwa zwei
Sternhaufen dicht nebeneinander auf der Platte sähe, zunächst einmal
die mittlere Position beider auf dem Himmelsglobus festlegen würde,
dabei aber zweifelhaft lassen könnte, ob ein einzelner gerade auf der
Grenze liegender Stern zu dem einen oder dem anderen Haufen (oder
auch zu keinem von beiden) gehörte. Wer wissen will, was der Unter-
schied von Pflanze und Tier ist, muß sich ebenso nicht zuerst an die
Grenzfälle, etwa die festsitzenden Hohltiere oder die amöboiden Sta-
dien der Schleimpilze halten, sondern einen Löwen oder eine Biene einer-
seits, eine Buche oder einen Schachtelhalm andererseits betrachten. Er
wird dann leicht finden, daß Festsitzen am Orte, Fähigkeit, anorga-
nisches Material zu assimilieren, Besitz von Zellwänden aus Zellulose
u. a. m. „typische‘‘ Eigenschaften der Pflanze, dagegen Beweglichkeit,
Ausbildung spezifischer Sinnesorgane, Assimilation nur von bereits assi-
milierten Stoffen u. a. m. charakteristische Merkmale des Tieres sind,
was aber durchaus nicht hindert, daß einzelne Gruppen von Pflanzen und
Tieren einzelne dieser „typischen‘“ Merkmale nicht besitzen. Niemand
wird daran zweifeln, daß die Koralle trotz ihrer festsitzenden Lebens-
weise zu den Tieren, die Schleimpilze trotz ihres amöboiden Stadiums
und die Mimosa pudica trotz ihrer kurzzeitigen ‚„Reizbarkeit‘“ zu den
Pflanzen gehören, weil sie eben in allem übrigen sich dazu gehörig er-
weisen. Nur da, wo ein wirklicher Mischmasch fast aller typischen Merk-
male stattfindet (bei manchen Einzellern), wird man zweifelhaft werden,
und hier wird dann nichts anderes übrigbleiben, als solche Grenzfälle
ausdrücklich für sich gesondert zu behandeln. Die Erfahrung zeigt,
daß so gut wie immer die Zahl derselben sehr klein ist, was nur ein
anderer Ausdruck für das weiter oben erwähnte Zilselsche realwissen-
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