550 IV. Natur und Mensch
gegen die Technik allein sich richten, sondern zumeist gegen den ganzen
Prozeß der „Rationalisierung‘“ unseres Lebens durch die menschliche
Kultur überhaupt ins Feld geführt werden, wie das insonderheit Dacqu&
in seinem bereits mehrfach erwähnten Buche ‚Natur und Seele‘ zum
Ausdruck gebracht hat. Wenn unsere Kultur überhaupt weiterbestehen
soll, so muß eine Lösung dieses Problems gefunden werden, die wir uns
natürlich nicht vermessen hier zu geben. Wir wollen lediglich versuchen,
ob sich nicht wenigstens ein gemeinsamer Boden finden läßt, auf dem die
beiden sich heute mit völligem gegenseitigen Nichtverstehen gegenüber-
stehenden Parteien, die Verehrer des technischen Fortschritts und der
Rationalisierung einerseits, die Lobredner der „guten alten Zeit‘ und
der ‚„Lebens- und Naturnähe‘‘ andererseits, überhaupt erst einmal in
Verhandlung treten können. Wir bleiben hier zunächst bei der Technik
im engeren Sinne und wollen dann nachher auch auf das allgemeinere
Problem noch einen kurzen Blick werfen.
Zunächst müssen wir einsehen, daß jene ganze technisch-industrielle
Entwicklung sachlich sowohl wie historisch notwendig und unvermeid-
lich war, soweit sie das rein naturwissenschaftlich technische Moment
selbst betrifft. Hier tritt das oben über die Autonomie der Kulturent-
wicklung Gesagte in Kraft: Ist ein gewisses Kulturgebiet einmal bis zu
einem gewissen Punkte gediehen, so geht die weitere Entwicklung im
wesentlichen nur noch nach ihm selber immanenten Gesetzen vor sich.
Nachdem einmal Naturwissenschaft und Technik bis zu dem Punkte
gekommen waren, wo sie um 1800 standen, war die folgende Entwick-
lung unvermeidlich. Einhalt hätte man ihr nur noch durch äußere Ge-
waltmittel gebieten können, welche nach eben unseren Begriffen von
höherer geistiger Kultur unzulässig sind und von denen die europäische
Menschheit Jahrhunderte hindurch gerade genug zu leiden gehabt
hat, um nicht einstimmig ein „niemals wieder‘ zu sagen. Und wir
müssen zweitens hinzufügen, daß an sich auch gegen eine solche Ent-
wicklung vom ethischen sowie auch vom religiösen Standpunkte aus
nichts einzuwenden sein kann, denn „alle Kreatur Gottes ist gut‘‘,
auch die neue Schöpfung, die sich durch den Menschengeist in der Tech-
nik vollzieht (s. oben). Eine Taschenuhr oder ein Radioapparat sind ein
ebenso bewundernswürdiges Kunstwerk der Schöpfung wie ein Pflan-
zenblatt oder ein Menschenkörper; daß das eine bewußt, das andere un-
bewußt geschaffen wurde, ist demgegenüber sekundär. — Es muß ferner
ausdrücklich festgestellt werden, daß die in Rede stehenden technischen
Errungenschaften jedenfalls zunächst nicht, wie man heute oft meint, aus
dem Motiv der Erwerbsgier heraus entstanden sind, sondern sehr vielfach
von den Erfindern selber als eine Gabe an die Menschheit angesehen
wurden, durch die sie ihren Mitmenschen das Leben erleichtern und sie
zufriedener und glücklicher machen zu können hofften. Freilich ist es