570 IV. Natur und Mensch
Menschen, zwischen diesen beiden Prozessen, die speziell in der Ge-
schichte der Wissenschaft beide nebeneinander mit Händen zu greifen
sind, ist die Hauptnahrungsquelle des bloßen Relativismus, nach dem es
überhaupt nichts Bleibendes, überzeitlich Gültiges in diesem fortwähren-
den Wechseln und Wachsen gibt. Er gleicht einem Menschen, der die
Existenz der Sonne deshalb leugnet, weil ihre Strahlen unzweifelhaft
immer wieder und wieder durch Wolken verdunkelt werden und manch-
mal wirklich fast ganz verschwunden zu sein scheinen. Wenn ein solcher
Mensch behaupten wollte, es gäbe im Grunde gar keine ‚„„Sonne‘‘, son-
dern nur vereinzelte Lichtbündel, welche der Mensch ‚„denkökonomisch‘‘
wegen gewisser konstant wiederkehrender zeitlich räumlicher Beziehun-
gen an ihnen durch das Wort ‚„‚Sonne‘‘ zu bezeichnen sich gewöhnt hätte
— widerlegen könnte man ihn nicht. Wir sahen oben, daß tatsächlich die-
ses die Lehre des modernen Positivismus ist. Inzwischen wollen wir
anderen uns dadurch die Freude an der wirklichen Sonne nicht verderben
lassen und somit auch den Glauben nicht, daß auch von dieser relati-
vistischen Verfinsterung ihres Lichts es in absehbarer Zeit wieder heißen
wird: nubecula est, transibit. Ich meine jetzt natürlich nicht mehr die
physische Sonne, sondern die Sonnen der Wahrheit, des Guten usw. Es
ist der Kardinalfehler des Mittelalters gewesen, daß es glaubte, alle diese
Werte sozusagen verbrieft und versiegelt in irgendwelchen von Menschen
geschriebenen oder gesprochenen Worten und Schriften, in menschlichen
Institutionen usw. fertig in der Hand zu haben. Auf diesen „naiven
Realismus‘“® (dies Wort hier im übertragenen Sinne genommen, es fällt
aber der engere erkenntnistheoretische Sinn auch mit darunter) mußte
mit Naturnotwendigkeit ein Zeitalter der Revolution, der Loslösung von
solcher äußeren Autorität und der schärfsten Kritik an allem Hergebrach-
ten folgen. Denn die absolute Wahrheit, der absolute Wert läßt sich auf
keinem Gebiete in menschliche Formen und Formeln einfangen, sie
spotten immer wieder aller diesbezüglichen Versuche. So mußte zuletzt
der Relativismus sans phrase, d. h. die Auflösung alles Glaubens an die
Wahrheit überhaupt, übrigbleiben. Die Kantsche Philosophie war
nichts anderes als der mit einer grandiosen Kraft unternommene Ver-
such, mitten in diesem Zusammenbruch, den Kant selbst, der „Alles-
zermalmer“‘‘ endgültig vollstreckt hat, doch die Geltung der Werte
als solche zu retten. Er mußte scheitern und ist gescheitert, weil Kant
nicht sah und nach Lage der Dinge auch nicht sehen konnte, daß die,
theoretisch sowohl wie sittlich genommen, „autonome Persönlich-
keit“, anders gesagt: der erkennende und werturteilende Geist, diese
Geltung als eine solche überindividueller Werte nicht ver-
bürgen kann, solange man ihn eben als bloße ‚„,Persönlichkeit‘“ faßt.
Freilich ist das Kantische ‚Ich‘ nicht das Ich einer individuellen
Person, Kant war weit davon entfernt, Subjektivist im gewöhnlichen