Full text: Aesthetik

414 Die Schöpfungen der schönen Künste und die Wahrheit. 
lihen Portraits, die sich in großer Anzahl aus der Venetianischen 
Schule erhalten haben“ *). | 
Die gleihe „mens<liche Auffassung des Marienbildes“, um den 
Ausdruc>k Springers zu gebrauchen, der nämliche naturalistische Geist wie 0 
in Jtalien, bemächtigte sich bekanntlich der religiösen Kunst um jene Zeit it 
auch in den nördlichen Ländern: auch dort wurde „das Madonnenideal M 
Fleisch“. „Dürer malte in heimlicher Liebe die geistreiche Pirkheimerin“ en 
als Madonna, „indeß ihm seine schöne aber zanksüchtige Gattin zu antiken [ 
Geschichten Modell stand ; Lucas Kranac<h erhob ein jchönes Bä>kermädchen 
zur Madonna, Rubens vergötterte niederländische Kuhmägde“ **); und 
noch in neuester Zeit weiß Kreuser von „vielen modischen Kir<enbildern“ 
zu erzählen, und von „Madonnen die eher wie Balljungfern aussehen" ***). 
In dem Maaße, wie der tiefe religiöse Sinn des Mittelalters mehr und 
mehr in weltliche Interessen und Tendenzen sich verlor, in demselben 
hörte auch die religiöse Malerei auf, für eine übernatürliche Weihe in 
ihren Darstellungen, für eine Uebereinstimmung derselben mit dem Sime 
des heiligen Geistes, Verständniß zu haben; es war ganz natürlich, wenn 
sie im achtzehnten Jahrhundert schließlich keinen anderen Beruf mehr 
kannte, als „der Verschönerung der Natur und des menschlichen Daseyns“ 
zu dienen, das heißt dem Luxus und dem Vergnügen, und so =- es sind 
Ulrici's Worte =- zur Stellung eines bloßen Decorateur5 herabsank. 
Sechstes Kapitel. 
Die Werke der schönen Künste und die Wahrheit. Fi 
288. In seiner „Anleitung zur oratorischen Beredtsamkeit“ spricht (0 
Quintilian wiederholt den Saß aus, eine Rede bestehe wesentlich aus O 
zwei Elementen, aus den Gedanken nämlich oder dem Inhalt, und dt 
ven Zeichen durch welche derselbe den Hörenden zugänglich gemacht Gn 
wird. Analoges gilt offenbar von den Werken aller übrigen schönen Wt 
Künste. In der Tragödie, in der in Stein gemeißelten Gruppe, in dem em 
Cölner Dombilde, in Webers „Dreizehnlinden“ oder Sciller3 „Die Bürg- en 
schaft“, werden uns Thatsachen vorgeführt, Erscheinungen aus dem menj<- : 
lichen Leben: diese bilden den Inhalt des Kunstwerkes; aber verschieden iw 
von diesem Inhalt ist das Mittel durch welches derselbe unserem Geiste mn 
vergegenwärtigt wird, das Auftreten der dramatischen Personen auf der 
*) Ulrici, S. 32. (Cit. 398.) M 
28) Hist.-pol. Blätter, Bd. 34. S. 944. zu 
23) Freuser, Der <ristlihe Kirhenbau, Bd. 2. (Regensburg 1861, 2. Aufl.) 
S. 334.
	        
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