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und nicht durch die vorwaltende Rücksicht auf eine Zukunft die
Gegenwart des früheren Lebensalters zu verlieren. Ich hatte es
einst, nämlich schon in der ı. Auflage vom Werth des Lebens
(1865), den Eltern an das Herz gelegt, ihre Erziehung so einzu-
richten, dass, wenn das Leben eines Kindes früh abschneidet, es
doch etwas für sich selbst gewesen und nicht dem spätern uner-
fülltem Zweck zum Opfer gebracht/sei. Die Freude am Leben
muss das entscheidende Richtmaass der Kinder- und Jugendbe-
handlung sein. Das jugendliche Alter ist kein blosses Mittel, um
zu einem reiferen zu gelangen, sondern ein Zweck an sich selbst.
Nach diesem Princip habe ich von vornherein in meiner Familie
gehandelt. Es wirkt immer wohlthätig; aber seine Vernachlässi-
gung wird zum vollständigen Raub des Jugendlebens, wenn der
Tod den Faden vorzeitig abreisst.
Ein vorzeitiges Schicksal trat auch in meiner Familie ein.
Mein jüngerer Sohn Ernst starb 1880 in seinem 16. Lebensjahre.
Er war ein blühender Knabe von besonderer Munterkeit und
Gewandtheit gewesen. Seine geistige Begabung und seine unver-
kennbare Anlage zur entschiedensten Charakterenergie hatten zu
den schönsten Hoffnungen berechtigt. Er war schon als kleiner
Knabe mein aufmerksamer Führer und bis zum Ende meiner Uni-
versitätsthätigkeit mein treuer Gefährte in allen Vorträgen gewesen.
Durch dieses beständige Zusammensein auch bei allen. äussern
Gelegenheiten war sein Sinn mit dem meinigen enger verwachsen,
als dies sonst in dem Verhältniss von Vater und Kind der Fall
zu sein ‚pflegt. Ueberhaupt war auch ‘in unserer ganzen Familie
der gegenseitige Anschluss besonders innig, weil sich das Leben
der Knaben durch keine Schule in Anspruch genommen sah und
unser Dasein ganz unter uns verlief. Die Aussenwelt bestand für
uns nur in meiner Vortragswirksamkeit, und auch hier war ich
ja nicht ohne einen Theilnehmer aus der Familie. Um so herber
empfanden wir die jähe Wendung, obwohl derselben ein langes
Unterleibsleiden vorausgegangen war. Die Zeit des Leidens hatte
das Band noch fester geschlungen und nicht blos das Gefühl des
eignen Verlustes, sondern auch die mitfühlende Trauer um das
abgeblühte Schicksal hat einen Schmerz ergeben, wie ihn noch
keine andere Wunde für uns mitsichgebracht hatte. Ich rechne
alle äussern Schicksalsschläge, die mich, einschliesslich meines
Augenunglücks, je betroffen haben, zusammen für weit geringer
als diesen einen Fall. Was mich von Aussen Widerwärtiges und