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»Herr Richter-Linder, ein Grossindustrieller Basels, mochte
bald nach Errichtung seiner Bandfabrik, worin vorzugsweise
Mädchen und Frauen beschäftigt sind, wenig erbauliche Beob-
achtungen über deren geistige und sittliche Anlagen gemacht
haben, welche sich kaum anders, als durch Verwahrlosung in
der Jugend erklären liessen, und zugleich mag ihn der Wunsch
beseelt haben, sich tüchtige Arbeiterinnen heranzubilden, kurz
er errichtete schon in den Vierziger Jahren nahe der Fabrik
ein Gebäude zur Aufnahme von Kindern, welche zu Hause keine
oder ungenügende Aufsicht haben, und, ohne Anleitung und
Kenntnisse in die Welt hinaus gestellt, dem Zufall und noch
öfter dem Verderben preisgegeben sind. Sie müssen das zwölfte
Altersjahr überschritten haben und erhalten Obdach, Nahrung,
Kleidung und während 12 Stunden wöchentlich Unterricht, und
werden auch für das heil. Abendmahl vorbereitet: die übrige
Tageszeit hindurch werden sie in der Fabrik mit mässiger Arbeit
beschäftigt. Jedem Kind wird ein Sparhafen von Fr. 300 für
die normale Dauer des Vertrags angelegt, davon aber für
Kleiderverbrauch ein mässiger Abzug gemacht.
Ueber jedes Kind wird mit dessen Eltern, Vormündern oder
Gemeindebehörde ein Vertrag auf 4 Jahre abgeschlossen. Krank-
heit, störrisches und unehrliches Betragen sind für den Fabrikanten
Kntlassungsgründe. Die Mädchen können nach dessen Ablauf
einen neuen Vertrag auf weitere 2 Jahre unter ähnlichen Be-
dingungen abschliessen. Die Mädchen werden in der Anstalt
nicht bloss zur industriellen, sondern auch zur Gartenarbeit, zur
Küche und Hauswirthschaft abwechselnd mit verwendet und in
den häuslichen Angelegenheiten unterwiesen. Gegenwärtig hat
sich um das am Teich im Grünen gelegene Fabrikgebäude eine
kleine Colonie gebildet, welche ohne sichtbare äussere Organi-
sation, ohne Abschliessung nach aussen gleichsam sich selbst
regiert. Noch mehr als Ruhe, Ordnung und Reinlichkeit beweist
der anhaltende starke Andrang für den guten Ruf der Anstalt,
wobei wir bemerken, dass fast alle Mädchen den Vertrag erneuern.