Einleitung.
angewandt auf das politische und gesellschaftliche Leben, führt zu der
Konsequenz, dafs eine unbefriedigende sozialpolitische Lage auch ganz
von selbst sozialpolitische Hoffnungen irgendwelcher Art erzeugen mufs.
Wenn schon der Mensch unter normalen Verhältnissen ohne Illusion über
sein Dasein und sein Verhältnis zur Aufsenwelt nicht auskommen. kann,
um wieviel weniger der Mensch, der mit den ihn umgebenden Verhält-
nissen unzufrieden ist? So entstehen in ihm — neben vielen anderen
Hoffnungen — Gedanken von Volks- und Menschheitszuständen, die den
bisher bestehenden durchaus entgegengesetzt sind, — wo die Habsucht
des Einzelnen und das egoistische Ringen Aller mit Allen durch die
Solidarität und die gegenseitige Hilfeleistung abgelöst ist. Viele werden
nun freilich diese Ideen als Traumbilder erkennen und sie ebensoleicht
abschütteln, wie sie ihnen gekommen: andere indes werden sich an der
Schönheit dieser Gesichte immer mehr berauschen, bis sie schliefslich
an ihre Wahrheit glauben und ihre Realisierung stürmisch begehren
werden: und damit haben die sozialen Illusionen ihren Einzug in den
menschlichen Geist gehalten.
Wenn aber ausschweifende Hoffnungen auf politisch-soziale Reformen
als Illusionen charakterisiert sind, so sind sie damit noch keineswegs
gerichtet. Denn Illusionen sind die notwendigen Begleiterscheinungen
alles irdischen Lebens. Illusionen sind immer nötig gewesen und werden
in alle Zukunft nötig sein, damit der Einzelne oder ein Volk die kalten
Regeln der rechnenden Vernunft und der Eigenliebe vergesse.
Darum ist also das Auftauchen und die Verbreitung von Illusionen
an sich noch nichts, was Verwerfung verdient, sondern es wird sich
immer um ihre Art und zumal um ihre Folgen handeln. Denn es giebt
Illusionen, die alles, was sonst den Menschen vom Nebenmenschen, eine
Klasse des Volkes von der anderen scheidet, für den Augenblick ver-
gessen machen, so dafs alle Glieder der Nation sich als ein einzig Volk
von Brüdern fühlen, gleichmäfsig auf ein Ziel hinstreben, übereinstimmend
— wie nach einem Plane — handeln: so gewinnt ein Volk seine Frei-
heit, verjagt eine aufgezwungene Fremdherrschaft oder zerbricht das Joch
eines drückenden Despotismus. In diesem Falle hat die Illusion offen-
bar im höchsten Mafse nützlich gewirkt und ist daher als produktiv
zu bezeichnen.
Anderseits giebt es Illusionen, die den Blick der Individuen und der
Massen verwirren, ihnen sinnberückende Ideale ohne reale Substanz vor-
gaukeln, sie mit rasender Gier erfüllen, alle Klassen gegen einander auf-
reizen und damit die Reibungswiderstände innerhalb eines Volkes ver-
gröfsern, die nationalen Kräfte zersplittern, die Aktionsfähigkeit nach innen
und aufsen lähmen oder auf Irrwege ablenken: so beginnt der Prozefs
der nationalen Dekomposition, fängt ein Reich an zu zerbröckeln, kündigt
sich der Untergang von Völkern und Staaten an. In solchem Falle hat;