Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

Einleitung. 
angewandt auf das politische und gesellschaftliche Leben, führt zu der 
Konsequenz, dafs eine unbefriedigende sozialpolitische Lage auch ganz 
von selbst sozialpolitische Hoffnungen irgendwelcher Art erzeugen mufs. 
Wenn schon der Mensch unter normalen Verhältnissen ohne Illusion über 
sein Dasein und sein Verhältnis zur Aufsenwelt nicht auskommen. kann, 
um wieviel weniger der Mensch, der mit den ihn umgebenden Verhält- 
nissen unzufrieden ist? So entstehen in ihm — neben vielen anderen 
Hoffnungen — Gedanken von Volks- und Menschheitszuständen, die den 
bisher bestehenden durchaus entgegengesetzt sind, — wo die Habsucht 
des Einzelnen und das egoistische Ringen Aller mit Allen durch die 
Solidarität und die gegenseitige Hilfeleistung abgelöst ist. Viele werden 
nun freilich diese Ideen als Traumbilder erkennen und sie ebensoleicht 
abschütteln, wie sie ihnen gekommen: andere indes werden sich an der 
Schönheit dieser Gesichte immer mehr berauschen, bis sie schliefslich 
an ihre Wahrheit glauben und ihre Realisierung stürmisch begehren 
werden: und damit haben die sozialen Illusionen ihren Einzug in den 
menschlichen Geist gehalten. 
Wenn aber ausschweifende Hoffnungen auf politisch-soziale Reformen 
als Illusionen charakterisiert sind, so sind sie damit noch keineswegs 
gerichtet. Denn Illusionen sind die notwendigen Begleiterscheinungen 
alles irdischen Lebens. Illusionen sind immer nötig gewesen und werden 
in alle Zukunft nötig sein, damit der Einzelne oder ein Volk die kalten 
Regeln der rechnenden Vernunft und der Eigenliebe vergesse. 
Darum ist also das Auftauchen und die Verbreitung von Illusionen 
an sich noch nichts, was Verwerfung verdient, sondern es wird sich 
immer um ihre Art und zumal um ihre Folgen handeln. Denn es giebt 
Illusionen, die alles, was sonst den Menschen vom Nebenmenschen, eine 
Klasse des Volkes von der anderen scheidet, für den Augenblick ver- 
gessen machen, so dafs alle Glieder der Nation sich als ein einzig Volk 
von Brüdern fühlen, gleichmäfsig auf ein Ziel hinstreben, übereinstimmend 
— wie nach einem Plane — handeln: so gewinnt ein Volk seine Frei- 
heit, verjagt eine aufgezwungene Fremdherrschaft oder zerbricht das Joch 
eines drückenden Despotismus. In diesem Falle hat die Illusion offen- 
bar im höchsten Mafse nützlich gewirkt und ist daher als produktiv 
zu bezeichnen. 
Anderseits giebt es Illusionen, die den Blick der Individuen und der 
Massen verwirren, ihnen sinnberückende Ideale ohne reale Substanz vor- 
gaukeln, sie mit rasender Gier erfüllen, alle Klassen gegen einander auf- 
reizen und damit die Reibungswiderstände innerhalb eines Volkes ver- 
gröfsern, die nationalen Kräfte zersplittern, die Aktionsfähigkeit nach innen 
und aufsen lähmen oder auf Irrwege ablenken: so beginnt der Prozefs 
der nationalen Dekomposition, fängt ein Reich an zu zerbröckeln, kündigt 
sich der Untergang von Völkern und Staaten an. In solchem Falle hat;
	        
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