2. Kapitel. Mores kommunistisches Staatsideal. 175
der in keiner Weise individuell gemodelt und blofs soweit variabel ist,
dafs man die. Geschlechter zu unterscheiden vermag. An dieser Auf-
fassung darf auch der Anflug von Epikureismus bei ihren Mahlzeiten
nicht irre machen: es sind eben Menschen, die bei Abwendung von der
Fülle und den mächtigen Triebkräften des sinnlichen Lebens doch
seine kleinen Freuden zu geniefsen suchen. Hier wie noch in vielen
anderen Einzelheiten zeigt sich eben die gutkatholische Gesinnung des
Autors, der sich in seinem ganzen Leben tägliche Bulsübungen, ja
Geifselungen auferlegt hat.
Aber dies Moment, das eben nur ein Beweis mehr für den Ursprung
der Utopia aus dem Kreise der katholischen humanistischen Reformer
ist, führt schliefslich doch nur dazu, der „Utopia“ eine eigenartige Nuanee
zu verleihen, ohne sie in nationalökonomischem Sinne wesensverschie-
den von den späteren kommunistischen Phantasiegebilden zu gestalten. —
Im einzelnen sind an dem von More entworfenen Bilde des idealen
Staates noch die folgenden Züge hervorzuheben.
Rein politisch ist es nicht mehr wie bei Plato der Stadtstaat, auch
nicht wie bei Zeno oder den christlichen Schwärmern des Mittelalters
der orbis terrarum, der als Basis des Gemeinschaftslebens dienen soll,
sondern der nationale Staat. Er ist in Verfassung und Verwaltung
charakterisiert durch den Föderalismus — indem er nämlich in lauter
gleichberechtigte Kantone zerfällt —, ferner durch das allgemeine und
gleiche Wahlrecht, die Wahl aller Beamten von unten auf, das lebens-
längliche Regime des — ebenfalls gewählten — Fürsten, das Verbot
jeder politischen Agitation aufserhalb der amtlich ausgeschriebenen Ver-
sammlungen und die Wahl der Weisesten zu Mitgliedern des Bundesrats,
der die gemeinsamen Angelegenheiten verwaltet. Alle diese Prinzipien
sind von thatsächlichen Institutionen der umgebenden Wirklichkeit —
den sich überall bildenden Nationalstaaten, der Selbstverwaltung ‚der
Städte, dem Parlament, dem Wahlrecht der Zünfte, der Monarchie, der
Unterdrückung der politischen Propaganda — gar nicht so weit entfernt,
aber das Bestehende, das in die Konstruktion des idealen Staates auf-
genommen wird, erfährt eine totale Umbildung im Sinne der humanistischen
Prinzipien.
Ebenso lassen sich selbst bei den sozialen Prinzipien der Moreschen
Konstruktion die Anknüpfungspunkte aus der realen Welt erkennen.
Ums Jahr 1500 war die Produktion in der Stadt durch den handwerks-
mäfsigen Betrieb, die Produktion auf dem Lande durch den bäuerlichen
charakterisiert. Beide Male wurde die ökonomische Einheit durch die je
nachdem handwerk- oder ackerbautreibende Familie repräsentiert, der
teils die eignen — unverheirateten — Kinder, teils fremde Gehilfen sich
anschlossen. Produktionsgemeinschaft bedeutete in dem als typisch zu be-
trachtenden Falle zugleich Haushaltungsgyemeinschaft, — Geselle und