2. Kapitel. Mores kommunistisches Staatsideal. 179
Art der Utopia nicht reif sel. Aber der begeisterte Vertreter des Huma-
nismus fragte sich — und darin liegt der Kern der Sozialethik der
Utopia —, wie wohl Mensch und Gesellschaft, Individuum und
Staat, wenn sie vom humanistischen Geiste völlig durchdrungen
seien, aussehen möchten: und die Antwort darauf giebt eben sein Staats-
roman! Die Voraussetzung des geschilderten Idealstaates ist der ge-
bildete, gerechte, heitere, der Laster (vor allem des Hochmuts) bare, allen
Excessen (auch des Vergnügens) abholde, sogar psychisch etwas herab-
gestimmte Mensch, und die Konsequenz für eine Nation, deren Mehrheit
aus solchen Individuen besteht, ist dann ein gerecht geordnetes Gemein-
wesen mit Gemeinsamkeit des Eigentums und vieler Lebensgenüsse, wie
es More mit genial geführtem Griffel hingezeichnet. Der wirkliche
Staat — darüber war sich More vollkommen klar — mufs sich von dem
fingierten idealen mindestens um soviel entfernen, als sich der wirkliche
Mensch von dem fingierten entfernt.
Soweit aber eine Annäherung der bestehenden Gesellschaft an jene
idealen Forderungen sich ermöglichen liefs, erschien sie ihm wünschens-
wert, und darum würde man durchaus fehlgehen, wenn man bei More
die Absicht, durch seinen Idealstaat auch eine praktische politische
und soziale Wirkung zu erzielen, leugnen wollte. Mit Recht konnte daher
Erasmus von Rotterdam, der persönlich mit More befreundet war, an
Ulrich von Hutten schreiben (1519): die Utopia sei mit der Absicht ver-
fafst, „zu zeigen, woran es liege, dafs die Zustände der Staaten nur wenig
befriedigen könnten“. Offenbar sollte der Kontrast zwischen dem im Glanze
der Gerechtigkeit und des Glückes erstrahlenden Utopien und den kor-
rumpierten und unglücklichen Nationen Europas dazu dienen, die Mäch-
tigen dieser Welt und ihre gelehrten Ratgeber an ihre höchsten sozialen
Pflichten gegen die leidenden Völker und an die Wichtigkeit der Pflege
friedlicher Beziehungen zu erinnern. Und so ist auch der Beifall zu
verstehen, den die „Utopia“ gleich nach ihrem Erscheinen in der ganzen
xelehrten Welt und ganz besonders bei den humanistischen Politikern aller
Länder, z. B. bei Bude und Busleyden, den Räten der fränzösischen und
spanischen Krone, gewann.
Danach kann unsere Kritik keineswegs dazu dienen, das Werk Mores
zu verkleinern: denn seine wesentlichste Schwäche — der Glaube, einen
Staat konstruieren zu können — fällt nicht dem Autor zur Last,
sondern der Zeit, in der er lebte, während dieser an Tiefe der national-
ökonomischen Einsicht, an Gröfse der Gesinnung, an Reichtum der
Phantasie, an logischer Konsequenz alle seine gelehrten Zeitgenossen weit
übertraf. Und darum ist es gekommen, dafs sein Werk zum hochragen-
den Markstein in der Geschichte der kommunistischen Ideenentwickelung
geworden ist. —
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