Erster Teil. Viertes Buch.
3. Kapitel. Idealgesellschaften der Renaissance.
(Rabelais und Campanella.)
(Vernunft zum Menschen :)
„Ruh’ oder wandle hier auf heiterm Pfad,
Nicht harre fürder meiner Wink’ und Lehren,
Frei, grad, gesund ist, was Du wollen. wirst,
Und Fehler wär’ es, Deiner Willkür wehren:
Drum sei fortan Dein Bischof und Dein Fürst.“
DANTE.
l. Rabelais’ Orden vom „freien Willen“. Mores Sozialphilosophie
ist das charakteristischste Beispiel dafür, dafs die Besten unter den
Humanisten des 16. Jahrhunderts bereits Prinzipien verkünden, die wir
als bezeichnend für das folgende Zeitalter des Naturrechts und der indi-
vidualistischen Lebensanschauung anzusehen gewohnt sind; denn Mores
Philosophie strebt eine Ordnung nach Naturgeboten an, will Alles
nach Vernunftgründen beurteilen und einrichten, spricht jedem Indi-
viduum als solchem einen Anspruch auf Glück zu, fordert für alle
Individuen die gleiche Gerechtigkeit und entfaltet schliefslich in ihrem
Glauben an die Güte der menschlichen Natur einen weitgehenden Optimis-
mus. Da nun in jeder kulturgeschichtlichen Epoche der Menschheit, in
der das Prinzip des Individualismus sich Bahn bricht, bald auch, ent-
sprechend der vielseitigen Produktivität des menschlichen Geistes, irgendwo
die äufserste Konsequenz der Anschauung, die in der vollen Entwickelung
der individuellen Kräfte das höchste irdische Ziel erblickt, nämlich
das Postulat des Anarchismus, erscheint, — so darf uns nicht wunder-
nehmen, dafs schon im 16. Jahrhundert, wo Vorläufer der individualistischen
Geistesströmung so eifrig am Werke waren, unter ihnen in einem einzelnen
Falle auch der Gedanke des anarchistischen. Idealzustandes auftaucht.
Der ihn aussprach, war kein Geringerer als Frankreichs gröfster
Satirıker, Rabelais (1483—1553), der selber zu jenem Kreise katholischer
Humanisten, aus dem More hervorgegangen war, in engeren Beziehungen
gestanden hatte, als sein Ideal aber nicht den arbeitsamen, nüchternen,
in allen Genüssen mälfsigen, von staatlıchen Schranken eng umgebenen
Menschen der „Utopia“ feierte, sondern — offenbar in bewufstem Gegen-
satze zu More — das sonnige Glück schrankenloser Freiheit und heller Ge-
nufsfreudigkeit bei hohem, stolzem, aber auch gerechtem Sinne pries. Seine
dichterische Phantasie malte sich das Leben dieser „Freien“ ebenso feenhaft
schön wie harmonisch aus, ohne zu verschweigen, dafs nur die besten Men-
schen dessen fähig und würdig seien, und dafs überdies solch ideales Leben
sich nur auf dem Postamente einer zahlreichen Dienerklasse erheben könne.
Gehen wir mit einigen Strichen näher auf dies anarchistische Utopien
ein, dessen Würdigung bisher von sozlalpolitischen Gesichtspunkten aus
noch nirgends versucht worden ist.
Gelegen ist es an der Loire, ın einer der schönsten Gegenden Frank-
reichs: dort wird nämlich von Gargantua der Orden vom freien Wıllen
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