4. Kapitel. Lessings idealer Weltbund. 261
und eben diese Identität sprach sich in dem Optimismus aus, mit dem
sie das Universum als die Manifestation der göttlichen Vernunft betrachtete
und die Züge derselben in jedem kleinsten Gebilde des Weltalls wieder-
zuerkennen bestrebt war“ (WINDELBAND).
2. Das staatlose Humanitätsideal Lessings. Unter der Einwirkung
dieser Zeitgedanken, die er ganz in sich aufgenommen hatte, entwarf Lessing
in seinen letzten Schriften, „der Erziehung des Menschengeschlechts“ und
den „Gesprächen für Freimaurer“ (1780), eine grandiose konstruktive
Skizze des Entwicklungsganges der Menschheit, worin er ihre Vergangen-
heit erklären und ihre Zukunft aufhellen wollte. Den Schlüssel zur Er-
kenntnis beider giebt ihm das historische Gesetz der kontinuierlichen
moralischen Vervollkommnung des Menschengeschlechts an die
Hand, — die Konsequenz des (spinozistisch gefafsten) Gottesbegriffes.
Danach dient alle Offenbarung ihrem Endzweck nach zur mora-
lischen Erziehung der Menschheit. Die erste Offenbarung wandte sich
an das jüdische Volk und mufste dessen noch unentwickeltem Charakter
angemessen sein: hier handelte es sich daher um eine Erziehung, die
dem Alter der Kindheit entsprach, also durch unmittelbar sinnliche
Strafen und Belohnungen zu wirken suchen mufste. Noch konnte Gott
seinem Volke keine andere Religion, kein anderes Gesetz geben, als eines,
durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf Erden
glücklich oder unglücklich zu werden hoffte oder fürchtete, — denn
weiter als auf dieses Leben gingen noch seine Blicke nicht. Aber es
kam die Zeit, wo der Teil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen
Erziehungsplan hatte fassen wollen, in der Ausübung seiner Vernunft so-
weit fortgeschritten war, dafs er zu seinen moralischen Handlungen edlere,
würdigere Beweggründe bedurfte und brauchen konnte, als zeitliche Be-
lohnungen und Strafen waren, die ihn bisher geleitet hatten. Ein besserer
Pädagog mufste erscheinen und dem Kinde „das erschöpfte Elementar-
buch“ aus den Händen reifsen: Christus kam und lehrte die innere Rein-
heit des Herzens im Hinblick auf ein anderes wahres, nach diesem
Leben zu gewärtigendes Leben, — die Menschheit trat in ihr Jünglings-
alter ein. Aber auch die Elementarbücher des Neuen Bundes sind eines
Tages erschöpft: und dann ist die Zeit für ein neues ewiges Kvan-
yelium angebrochen, das diejenige Reinheit des Herzens hervorbringen
wird, die uns die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben fähig macht.
Und sie. wird gewils kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch,
je überzeugter sein Verstand einer immer besseren Zukunft sich fühlt,
von dieser Zukunft gleichwohl Beweggründe zu seinen Handlungen zu
erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es
das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind.
Schwärmer haben einst im Mittelalter einen ähnlichen Plan verkündet:
nur dafs sıe ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kindheit entwachsen