38 Erster Teil. Erstes Buch.
vornehmen Familien darstellte: „dem Volke selber — heifst es naiv ge-
nug in dem aus ihren Kreisen hervorgegangenen, anonymen „Staate der
Athener“ — verüble ich sein Klassenregiment nicht, denn sich selbst wohl-
zuthun, ist bei Jedermann verzeihlich; wenn aber die rechten Leute sprächen
und im Rate säfsen, so wäre das für ihresgleichen gut, für das Volk frei-
lich nichts weniger als gut!“ Brutales Klasseninteresse also hier wie dort!
Platos Hafs gegen die Demokratie mufste sich philosophisch ver-
tiefen, als er — fast noch ein Knabe — durch Kratylus in die Philosophie
Heraklits (etwa 535—475) eingeführt wurde. Der war ein grofser Ver-
ächter der Menge gewesen, die er als die „Vernunftlosen“ (d&üveror)
— das Urbild von Nietzsches „Vielzuvielen“ — zu bezeichnen pflegte,
die, nach seinem Ausdruck, „sich mästen wie das Vieh, weil messend
das Glück nach dem Magen und den Schamteilen und dem Verächt-
lichsten an uns“! Gegen die Demokratie seiner Vaterstadt hatte Heraklit
scharfen Protest eingelegt, wie jener drastische Ausspruch lehrt, den er
that, als ihn die Ephesier beim Würfelspiel mit Knaben betrafen: „Was
wundert Ihr Euch, ihr Lumpengesindel? Ist das nicht immer noch ‚besser,
als Euch helfen, den Staat verwalten“? Offen erklärte er: ihre Verwal-
tung sei verderblich; und wahres Gesetz sei nur, was dem Ratschlusse
eines Einzigen, des Repräsentanten der allgemeinen Vernunft, entspräche.
Einsam und weltabgewandt hatte Heraklit gelebt. „Kein übermächtiges
Gefühl mitleidiger Erregungen, kein Begehren, helfen, heilen und retten
zu Wollen, strömt von ihm aus. Er ist ein Gestirn ohne Atmosphäre.
Sein Auge, lodernd nach Innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie
zum Scheine nur, nach aufsen. Rings um ihn, unmittelbar an die Feste
seines Stolzes, schlagen die Wellen des Wahnes und der Verkehrtheit:
mit Ekel wendet er sich davon ab“ (NıeTzscHE).
Platos warmblütige Natur mufste sich bald von einer solchen wie aus
Erz gegossenen Larye abwenden; und nun schlofs er sich an Sokrates
an. Durch seine Lehre wurde Plato endgültig davor bewahrt, sich
gleich Heraklıt von der Masse hochmütig abzusondern oder auch gleich
den aristokratischen Politikern Athens nur das Standesinteresse der vor-
nehmen Familien ins Auge zu fassen. — In Sokrates’ Schule lernte er,
in der Gerechtigkeit den idealen Leitstern alles sozialen Zusammen-
lebens zu erbliceken, — und er beschlofs, fortan unverbrüchlich danach zu
handeln. Das ist ja eben, wie schon GOETHE. bemerkt hat, das Grofse
der alten Philosophen, dafs sie Quelle und Richtschnur alles Lebens und
Thuns vor Augen stellen, nicht zu leerer Spekulation, sondern zu Leben
und That auffordern. So konnte Plato nicht einfach politischer „Aristo-
krat“ werden, in dem Sinne wie es damals alle Welt nahm, sondern er
mufste das Regiment der Besten, Tüchtigsten, moralisch Höchststehenden
zu Gunsten des ganzen Gemeinwesens anstreben: er ward — Sozial-
aristokrat. >