4. Kapitel. Zenos idealistischer Anarchismus. J
arbeitet nach seinen (freiwillig angewandten) Fähigkeiten und konsumiert
nach seinen. Bedürfnissen.
Diese Verschiedenheit liefse sich noch weiter verfolgen, wenigstens
soweit uns Einzelheiten aus Zenos idealer Gesellschaft bekannt sind, aber
es ist wahrlich nicht vonnöten: denn die Unterschiede mufsten einfach
soweit gehen, als eben der internationale Anarchismus der Widerpart eines
nationalen Kommunismus war. —
In eine Kritik der zenonischen Ausführungen einzugehen, ist fast
überflüssig. Der ganze Zustand, der da erträumt wird, erscheint als
so unmöglich, dafs man ihn für eine dichterische oder religiöse Vision
halten müfste, wenn man nicht genau wülste, dafs der Autor ihn ebenso
ernst genommen hat wie Plato seinen Idealstaat. Nur ist beim stoischen
Ideal noch weniger als beim platonischen einzusehen, wie man sich etwa
seine Verwirklichung zu denken hat. Denn wenn schon Plato kaum eine
Ahnung davon hat, was zum Staatsmann gehört, und wie unausrottbar
die Triebe und Leidenschaften in der Menschenseele wurzeln, — so steht
Zenos Kenntnis dieser Dinge noch tief darunter. Plato hält doch immer-
hin nur eine Elite der hellenischen Bevölkerung für fähig zur höchsten
Sittlichkeit und setzt überdies für diesen erlesenen Bruchteil der Bürger-
schaft die Anwendung einer beispiellos rigorosen Sozialpädagogik voraus,
— während Zeno alle Völker in einem dauernden Taumel der gegen-
seitigen Freundschaft und Liebe leben läfst. Ein erotisches Verhältnis Aller
zu Allen: das ist wohl der Gipfel dessen, was von doktrinärer Verblendung
jemals in der Verkennung des menschlichen Herzens geleistet worden ist.
Um einigermafsen zu verstehen, wie ein. Geist wie Zeno solch aus-
schweifender Imaginationen fähig gewesen, mufls man sich vor Augen
halten, dafs ähnliche Ideen auch späterhin von Denkern wie Lessing und
Fichte ernsthaft — wenn auch nur als letztes Zukunftsideal — angedeutet
worden sind. Es zeigt sich eben auch hier, wie leicht der menschliche
Geist beim Forschen nach dem Wahren sich in Illusionen verliert, und wie
zumal das Genie, das dem menschlichen Blick neue grofsartige Perspektiven
eröffnet, dazu neigt, sich an trügerischen Gaukelbildern zu berauschen.
Für Hellas aber, dessen Geisteskultur fortan bis zum Untergange
der antiken Welt durch die Philosophie Platos und der Stoa bestimmt
war, ist die Thatsache, dafs die grofsen Schöpfer dieser Systeme sich die
soziale Reform nur in Gestalt utopistischer Phantasieen vorstellen konnten,
ungemein charakteristisch; und der Historiker wird in ihr eines von den
vielen Symptomen jenes Zeitalters erblicken, die Hellas’ endgültigen poli-
tischen und wirtschaftlichen Niedergang bezeugen. —
2. Sozialistische Romanlitteratur. Da die seit dem 4. und 3. Jahr-
hundert üppig emporwuchernde griechische Roman- und Reiselitteratur
sich gern in Form von Schilderungen fremder Völker mit den Bedingungen
57