Zweites Buch. Kommunismus und Anarchismus
als Konsequenzen religiöser Bewegungen im Altertum.
1. Kapitel. Die soziale Frage im alten Israel
und das Gottesreich Jesajahs.
l. Die Erhaltung des bäuerlichen Mittelstandes. In der ersten Zeit,
nachdem sich Israel ansässig gemacht, lag ein Anlafs zu sozialen Kon-
flikten nicht vor. Über die ursprüngliche Landverteilung an die ein-
zelnen Familien fehlen uns zwar primäre Quellen, aber es kann doch
nach dem Resultate der heutigen Forschung (man vergl. z. B. NOwACK,
Studien über die sozialen Probleme Israels) kaum einem Zweifel unter-
liegen, dafs jeder Stamm das von ihm eroberte Land unter die Zahl
seiner waffenfähigen Männer verteilte, zumal Israel .in_ jener alten Zeit
weder einen Priester- noch einen Kriegeradel hatte. Die Viehzucht trat
jezt naturgemäfs gegen die Ackerwirtschaft zurück, und Feld- und
Gartenbau galten bald als der eigentliche Beruf des Menschen. Das
Land bot freilich freiwillig wenig dar, aber der Schweils des Ange-
sichts that Wunder. Die terrassierten Berge waren mit Wein und Oliven
bedeckt, die Thäler und Ebenen trugen Weizen und Gerste die Fülle.
Offenbar stand _der Anbau auf einer sehr hohen Stufe.. Handwerke und
Künste dagegen arbeiteten nur für den einfachen Hausbedarf; Weben,
Töpfern, Zimmern und Schmieden waren die wichtigsten (vergl. WELL-
HAUSEN, Israelitische Geschichte). Das war etwa ums Jahr 500. Aber
es dauerte nicht lange, und die Zeiten änderten sich. Der Handel, ur-
sprünglich in den Händen der kanaanitischen Städte, wird bald auch von
den Israeliten betrieben, denen ihre Könige — seit Salomo — mit gutem
Beispiele vorangehen, indem sie das überseeische Geschäft in grofsem
Stil in die Hand nehmen. Und nun erfolgt jene Entwickelung, die in
ihren uns bekannten prinzipiellen Hauptpunkten typisch ist für die
soziale Evolution der Kulturvölker des Altertums: Mit der Ausbildung
des Handels verfällt immer mehr die Wirtschaft des freien Bauern; ein
Stand von Reichen kommt auf, dem der Bauernstand tief verschuldet ist;
die Reichen benutzen das, um die kleinen Höfe zu legen, weite Lati-
fundien in ihrer Hand zu vereinigen und die Bauern auf die Stufe von
Hörigen oder fronpflichtigen Pächtern herabzudrücken.
Für die Entwicklung in Israel liegen in den Reden der Propheten
— die dem Sinne nach ähnlich lauten wie die Klagen der hellenischen
Weisen und der römischen Volkstribunen -— die entscheidenden Belege