Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

4. Kapitel. Der kommunistische Anarchismus der „Karpokratianer“. 79 
den Begriff der Gerechtigkeit sonder Zweifel fest: wie vom Sonnenlichte 
Niemand mehr oder weniger als Andere haben kann, so soll es mit allen 
Dingen und Genüssen gehalten werden. Und so ists auch thatsächlich 
in der ganzen Natur. Überall sehen wir, dafs den Lebewesen alle 
Speisen gemeinsam zu gleichmäflsigem Genusse gewährt werden, 
und dafs kein Gesetz dieses gottgewollte Verhältnis, das Aller Überein- 
stimmung hervorbringt, stört. 
Ebenso wie mit den Speisen verhält es sıch mıt der Zeugung. Auch 
hierüber giebt es kein geschriebenes Gesetz, das sich als von Gott stam- 
mend dokumentiert. Sondern man sieht Gottes Willen in der Natur 
walten: wo seine Gerechtigkeit, die Allen gleichen Anteil gönnt, überall 
zur Gemeinschaft im Geschlechtsleben führt. Hier wie sonst immer hat 
Gott gleichmäfsig Allen alle Güter geschenkt. 
Gegen diese Gerechtigkeit, die Gottes Wille ist, handelt die herr- 
schende Menschensatzung; denn mit ihrem Prinzip des ausschliefslichen 
Eigens zerschneidet sie die Gemeinschaft des göttlichen Gesetzes. In 
diesem Sinne will Epiphanes des Apostels Wort aufgefafst wissen: durch 
das Gesetz erkannte ich die Sünde. „Denn was — fährt er laut Clemens’ 
Bericht fort — ist gemeinsam denjenigen, die weder Land noch Güter 
noch gar die Ehe geniefsen? Gemeinsam schuf Gott Allen die Wein- 
stöcke, die weder einen Spatz noch einen Dieb abweisen, ebenso das 
Getreide und die übrigen Früchte. Die Verletzung der Prinzipien der 
Gemeinsamkeit und der Gleichheit erzeugte den Vieh- und Früchtedieb. 
Gemeinsam also hat Gott Alles dem Menschen gemacht und die Frauen 
den Männern gemeinsam übergeben.“ Aber die zur Gemeinschaft Ge- 
borenen haben eben dies Prinzip ihrer Entstehung verleugnet. Da sagt 
man: wer ein Weib heimführt, dem gehöre es, — da doch Alle an ihr 
teilnehmen können, wie die anderen Lebewesen erweisen. Lächerlich 
sei das Wort des (jüdischen) Gesetzgebers: Du sollst nicht begehren, 
und noch lächerlicher der Zusatz: das, was dem Nächsten gehört, — 
denn indem Gott uns die Begierde einpflanzte, ordnete er an, dafs wir 
sie brauchen sollen und nirgendwo austilgen, sowenig wıe andre Lebe- 
wesen ihr Begehren zügeln. Am lächerlichsten aber seı der Zusatz zu 
jenem Wort: das Weib des Nächsten, — denn damit würde zur Privat- 
sache erniedrigt, was gemeinsam sein solle. 
So lehnt sich die Schule des Karpokrates gegen das mosaische Ge- 
setz auf, an dessen Stelle sie — nach Clemens’ Ausdruck — die monadische 
Gnosis (wovadızy yv@oıs) setzt, dıe alles Heil im Zurückgehen auf den 
Einen Urschöpfer und Gott erwartet. Lebt man Dessen Geboten nach, 
wie sie unter anderm in Handlungen gemäfs den Prinzipien der Gleich- 
heit und Gemeinsamkeit bestehen, so wird es den Seelen gelingen, Satanas 
und die anderen Geister, die diese Erde regieren, zu überwinden und es 
Jesus und den Aposteln gleichzuthun. —
	        
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