Zweites Buch: XVII. 135
Allein wir dürfen diese Consequenz nicht ziehen, um unter Be—
ziehung auf Anselm dieselbe als eine sichere Thatsache voraus—
zusetzen, da vielmehr die einziges0) Urkunde, welche wir von
seiner Hand habens1), ganz andere Aufschlüsse giebt. In der—
selben wird auf der einen Seite die Autorität der heiligen
Schrifts2) auf das Höchste gefeiert, auf der anderen die mensch—
liche Irrbarkeitz3) anerkannt, ausdrücklich das wahrscheinlich
Fehlerhafte der eigenen Lehre aus dem mangelhaften Verständniß
des überschwänglich reichen göttlichen Wortes hergeleitet. Der—
selbe Mann, welchen man im Namen der Kirche zu Soissons
berdammt hattes*), nennt nicht nur Rom das Haupt der Welt,
er rühmt sich auch der Gunst der öffentlichen Meinung daselbsts).
Statt des Tones des hochmüthigen Absprechens, welchen sein
Gegner gehört haben will, vernehmen wir dort den der demüthigen
Bitte um bessere Unterweisung. Weit davon entfernt die Ver—
unglimpfungen seines Namens zu erwidern, urtheilt der Versöhn—
liche in Worten höchster Anerkennung über die Leistungen des
freilich auch der Irrung ausgesetzten Anselms6). Und doch hatte
dieser in der Polemik sich gleich einem den Schüler zurechtweisenden
Lehrer geberdet; sein Gericht über den Nominalismus hielt sich
sicher für ein vernichtendes. Nichtsdestoweniger beruht dasselbe
auf argen Mißverständnissen. Roscellin ist nicht jener frivole
Sensualista7) gewesen, welcher lediglich materielle Einzeldinge als
seiend anerkannt hätte. Die bekannte ihm zugeschriebene nomina—
listische Formel erklärt sich aus dem Triebe einer sich über—
hietenden Opposition gegen einen Realismus von doch nur schein—
barer Tiefe.
Dieselbe hätte, wie man vermuthen darf, Anstoß erregt, selbst
venn der Conflict ein nur logischer geblieben wäre. Aber derjenige,
welcher weder der erstess), noch vielleicht der vornehmste Nominalist
dieser Zeit war, verschärfte den Gegensatz durch die ihm eigenthüm—
—
der Umstand, daß man in Berengar's Abendmahlslehre eine Con—⸗